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einige anfangs- und endlose Leben, das Ewigganze, das nur unserer Endlichkeit zum Vielen wird. Weil sie eine Einheit ist, weckt sie auch in allen Seelen, in die ein Strahl von ihr fällt, denselben gesteigerten Menschensinn, erhebend vom Vielen zum Ganzen. Die Summe dessen, was wir verstehen, bleibt immer verschwindend gegenüber dem, was wir zu verstehn uns vergeblich sehnen. Aber daß die Summe der von der Wissenschaft erleuchteten und erweckten Seelen so groß geworden ist, wie es vor hundert Jahren auch der Kühnste nicht zu ahnen wagte, darauf dürfen wir die Hoffnung gründen, daß die Menschenkultur bestehn und wachsen werde. Denn allen diesen Seelen ist es aufgegangen, daß des Menschen edelste Kraft nicht ihm gehöret, sondern der Menschheit. Jede Wahrheit wird Gemeingut, sobald sie ausgesprochen ist. Was verschlägt es, wer sie zuerst aussprach? Die Quelle verrinnet im Bache, die Bäche im Strome, und aller Ströme Wasser verrinnen im ewigen Meere. So in der Wissenschaft. Wie darf sich da ein einzelner oder ein Volk berühmen, dieser Tropfen, diese Welle stammet von mir? Aber das Gefühl der Bescheidung, das freilich jeden einzelnen übermannet, und auch dem Volke und der Generation und dem Jahrhundert das dünkelhafte „wie wir’s so herrlich weit gebracht“ verwehrt, drückt nicht nieder, sondern erhebt. Denn an dem Anschauen des ewigen Seins, wenn auch das göttliche Licht dem irdischen Auge nur im farbigen Abglanze des Werdens wahrnehmbar ist, hat der Mensch das wahrhaft menschliche Leben. In der Quelle, die ihn tränkte, dem Baume, dessen Früchte ihn nährten, im Sturme, der ihn umbrauste, der Sonne, die ihn wärmte, empfand der Mensch der Urzeit die wirkende übermenschliche Kraft, offenbarte sich ihm die Gottheit. Alles war ihm Wunder, jedes Wunder unmittelbar eines Gottes Werk. Wissenschaft ward, als der göttliche Drang zur Erkenntnis der Wahrheit in den Seelen ionischer Männer fortzuschreiten wagte vom Vielen zum Einen, da sie die Einheit alles Lebens erkannten. Wodurch? Dadurch, daß

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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_170.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)