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Völker daran gewöhnen müssen, daß die Erdoberfläche sehr viel mehr eine Einheit ist, als es vor hundert Jahren Europa war, seit die Wissenschaft in Verbindung mit der Technik der Natur Kräfte abgewonnen hat, die den Raum überwinden. Handels- und Freundschaftsverträge sichern fast überall den friedlichen Verkehr, und den flüchtigen Verbrecher verfolgt die Strafe bis in die fernsten Schlupfwinkel. Für die Post ist die Welt bereits eine Einheit; das internationale Recht bemächtigt sich immer zahlreicherer Materien, und die Staaten binden sich immer häufiger durch allgemeine Verträge zum Schutze der Menschlichkeit, wie durch die, welche das Zeichen des roten Kreuzes tragen. Führerin und Vorkämpferin ist darin die Wissenschaft. Nicht nur daß sie Vereinbarungen veranlaßt, wie die internationale Erdmessung oder die Kooperation mehrerer Kulturvölker zu wissenschaftlichen Zwecken, wie der Erforschung der wenigen noch unbekannten Teile der Erdoberfläche, oder den Zusammenschluß der Körperschaften, welche die wissenschaftlich organisierte Arbeit leiten. Das Wesentliche ist die Erstarkung und Verbreitung der Wissenschaft selbst. Denn wenn eines den Glauben an den Bestand und Fortgang der Gesittung überhaupt rechtfertigen kann, so ist es dies, und nicht nur, weil er in einer Universität erstattet wird, muß dieser Rückblick auf den Erfolg des Jahrhunderts in dem Preise der Wissenschaft gipfeln. Gleich aber muß mit und neben ihr die Technik genannt werden, die eng verschwistert, dennoch sich zu stolzer Selbständigkeit erhoben hat. Die Wissenschaft, die uns ihre Schöpfer, die Hellenen, übermittelt hatten, war im wesentlichen auf die reine Erkenntnis gerichtet, auf Theorie, das will sagen Anschauen. Welch ungeheurer Fortschritt liegt darin, daß nun die Handfertigkeit und Phantasie des Technikers einerseits die Ergebnisse der Wissenschaft in Neuschöpfungen der Praxis verwertet, andererseits durch das empirisch Gelungene der Wissenschaft neue Lösungen oder auch Probleme zuführt. Die begriffliche Distinktion mag schwierig

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_167.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)