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immer friedlich, um so mehr, da sie sich beständig verschieben, und doch ist das Gedeihen eines jeden für das Gesamtwohl unentbehrlich. Für all diese Kreise verlangen wir freie Bewegung, wie sie auch der einzelne Mensch für sich fordert. Gewiß liegt darin eine große Gefahr. Aber wie der kleinste Kreis gleichgestellter Menschen einträchtig nur bestehen kann, wenn seine Glieder einander in ihrer Eigenart achten, und wie sie das um so besser thun werden, je mehr sie einander verstehn, so müssen die verschiedenen Lebenskreise sich als gleichberechtigt anerkennen und sich zu verstehn suchen. Der Staat, die organisierte Gesellschaft, hat schon eine ungeheure Aufgabe, wenn er alle in dem Rahmen des Gemeinwohles und des gemeinen Friedens hält. Aber wir verlangen sehr viel mehr von ihm. Wir leben ja des Glaubens, daß er eine sittliche Institution ist. Er soll nicht nur dem Übel wehren, er soll das Gute wirken. Er soll selbst anregen und Ziele weisen. Er soll den Schwachen nicht nur vor Unbill schützen, er soll ihm emporhelfen. Vielleicht erwarten wir zu viel von ihm, sicher kann er jedem einzelnen nicht die Pflicht der persönlichen Mitarbeit abnehmen. Aber dank Kaiser Wilhelm I. und seinem großen Kanzler nehmen wir die Verpflichtung auf die kaiserliche Botschaft der sozialen Versöhnung mit in die neue Zeit. Sie kann verwirklicht werden, wenn all die neuen Kreise und Stände des Lebens es lernen, einander zu verstehn und die gleichberechtigte Würde des Nächsten auch da zu achten, wo sie sie nicht verstehn, endlich aber den Goetheschen Spruch des Individualismus, der füglich dem Staate gesagt werden kann „was dem einen frommt, das frommet allen“, in der Umkehrung sich gesagt sein lassen „was dem Ganzen frommt, das frommet jedem.“

Scheint schon die Verwirklichung dieser Eintracht des ganzen Volkes fast chiliastisch, wie viel minder wird man für die Völkerfamilie der Erde zu hoffen wagen, daß sie einmal das liebliche Bild von einträchtig bei einander wohnenden Brüdern biete. Immerhin haben sich die

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_166.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)