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Ebenso bewundernd sehen wir jenseits des Ozeans nach dem ersten Jahrhundert der Freiheit nicht nur einen Weltteil besiedelt und ein machtvolles Reich gegründet, sondern eine neue Volksindividualität im Werden, und eine eigene Kultur, die sich bereits anschickt, der alten Welt, was sie an Kulturüberlieferungen empfing, mit neuen Schöpfungen zu vergelten.

Allein gerade wenn wir das Erstehen und Erstarken anderer Völker als einen Gewinn für die Menschheit freudig begrüßen und gern glauben, dass ein Ereignis fremden Ruhmes das zwanzigste Jahrhundert abgrenzen wird, haben wir das Recht, uns in festlicher Stunde einzugestehen, dass das Köstlichste, was die Menschheit im neunzehnten Jahrhundert gewonnen hat, den Stempel deutschen Ursprungs trägt. Da das Jahrhundert beginnt, steht unsere Dichtung im Zenith; für das Ausland hatte sie bisher überhaupt nicht existiert: jetzt bringt Frau von Staël sie der Französisch lesenden, d.h. der gebildeten Welt näher; bald erhebt sich in England Thomas Carlyle als Prophet der ganzen Heroengestalt Goethes, und hinfort hat keiner an der wirklichen Kultur seiner Zeit mehr Teil, der sich nicht an dieser Sonne von Poesie und Weisheit gewärmt hat. Bald tritt die deutsche Musik hinzu als eine völlig neue Offenbarung, und obwohl sie in steigendem Maße das nationale Element betont, ist sie doch die Musik der Menschheit geworden. Durch die altüberlieferte Logik und Metaphysik hat Immanuel Kant einen Strich gemacht, wie Goethe noch ein Sohn des vorigen Jahrhunderts. Erst durch ihn ist Aristoteles überwunden. Und gleich wird in Deutschland von neuem der Versuch gemacht, in der weltumspannenden Weise des Aristoteles, aber auf neuen Grundlagen, das ganze Gebiet der Erfahrung und des Gedankens, das Leben der Natur und der Seele, mit philosophischem Blicke zu überschauen und zu durchschauen, und neben die titanische Kühnheit des neuen Idealismus treten die neubelebten, wirklich erst durch die Philosophie zur Wissenschaftlichkeit erhobenen Disziplinen. Auch diese deutschen

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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_159.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)