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könnte und wollte, was er der französischen Revolution verdankt. Und wenn die napoleonische Zeit vernichtend wie ein Unwetter über Europa gezogen ist, und kein Land so schwer darunter gelitten hat wie das unsere, und wenn uns das Herz höher schwillt bei den Zorn- und Kampfliedern der Befreiungskriege, und wenn dem Preußen keine Zeit seines Volkes teurer ist als die, wo der Glaube an Gottes Gerechtigkeit und des tapferen Mannes Willenskraft und Wagemut den Sieg errang, nicht nur über den gewaltigen Feind, sondern den schwereren über Kleinmut und Selbstsucht im eigenen Lager, dennoch müssen wir längst die Freiheit des Geistes gewonnen haben, mit Goethe, dem Sohne des 18. Jahrhunderts, auch gegenüber den Zerstörern des alten deutschen Reiches und des friedericianischen Preußens zu sprechen: „wie soll ich ein Volk hassen, dem ich so viel von meiner Bildung verdanke“.

Aber das Ende des 19. Jahrhunderts? Endet es heute? Nein, wahrlich nicht. Es wird mancher hier sitzen, der am 16. März 1888 es auch ausgesprochen hat, dass die Glocken, die dem Heimgang des ersten deutschen Kaisers auf jedem Kirchturme seines Reiches läuteten, auch dem Jahrhundert das Grablied tönten. Festen Schrittes, ungebeugt durch die Last doppelten Schmerzes und ungeheurer Verantwortung, wandelte der Enkel hinter des Grossvaters Sarge durch den Wintersturm, mit dem die Natur dem alten Helden das Geleit gab; jeder treue Deutsche empfand in aller Trauer nicht sowohl den Ruhmesglanz als den Schatz von Liebe und Ehrfurcht, den der Vater des Vaterlandes den Seinen als etwas Unsterbliches hinterlassen hatte, und wir gelobten aus vollem Herzen, Treue und Liebe den Erben der kaiserlichen Krone zu bewahren, auch in dem neuen Jahrhundert. Wenig Jahre sind seitdem verstrichen; festen Schrittes, ungebeugt durch die Last der ungeheuren Verantwortung, wandelt unseres kaiserlichen Herrn Majestät durch die Stürme einer neuen Zeit. Jeder treue Deutsche empfindet, dass neue und schwere Forderungen gestellt sind. Wohin uns die Zukunft

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_157.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)