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der Anfang des letzten Jahres bereits das Ende des Jahrhunderts, und mit derselben naiven Projektion des eigenen Gefühles, die das Kind und der Naturmensch übt, sieht er in dem Tage, den er zum Jahrhundertanfang stempelt, etwas Besonderes, Dämonisches.

Aber gerade wer diese naive Selbsttäuschung übersieht, darf zwar nicht unterlassen, auch daran zu mahnen, wie ohnmächtig am Ende Menschenwillkür gegenüber der heiligen Stätigkeit der Natur ist, aber gern wird er in dem, was die Menschen, wie sie nun einmal sind, glauben und empfinden, das Echte und Fromme und Wahre hervorsuchen. Und das Jahrhundert und seine Feier ist keineswegs bloß eine Abstraktion unseres Zahlensystemes. Die hat den Römern sehr ferngelegen, die die Säkularfeiern aufgebracht haben. Ein Anfangspunkt muß freilich gegeben sein; dann aber ist ein Säkulum vergangen, wenn der letzte Mensch stirbt, der die vorige Feier erlebt hat. Das sind rund gerechnet hundert Jahre, oder auch, wie die Griechen und wir sagen, drei Menschenalter. Das aber ist in der That ein abgeschlossener Zeitraum. Vater, Sohn und Enkel kennen einander noch; der Enkel hat noch die Tradition des Großvaters unmittelbar – dann schwindet sie. Ein jeder, der seine Familienüberlieferung überdenkt, wird diesen Begriff des Säkulums als zutreffend und bedeutsam anerkennen. Und dann ist es vollauf berechtigt, auch nach dem Säkulum eines Volkes, weiterhin nach dem der Menschheit zu fragen.

Aber ein Anfangstermin muss da sein. Einmal muß die Empfindung übermächtig gewesen sein, daß in der Gegenwart eine neue Weltperiode begänne. Das war so, als Kaiser Augustus 17 v. Chr. die Säkularfeier abhielt, zu der Q. Horatius Flaccus das schöne Prozessionslied gedichtet hat. Nach einem Jahrhundert voll Blut und Verbrechen, Krieg und Verwüstung war Frieden und Ordnung hergestellt: dankbar und hoffnungsvoll empfanden die Menschen das Bedürfnis einer solchen frommen Feier, und wenn die Sibylle erst durch die Korrekturen ihrer Sprüche

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_155.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)