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Neujahr 1900.

Rede zur Feier des Jahrhundertwechsels, gehalten im Namen der Universität Berlin
am 13. Januar 1900.


Die Sonne tönt nach alter Weise
in Brudersphären Wettgesang,
und ihre vorgeschriebne Reise
vollendet sie mit Donnergang.
Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke,
wenn keiner sie ergründen mag:
die unbegreiflich hohen Werke
sind herrlich wie am ersten Tag.

Also begrüßen die Erzengel den Anbruch eines neuen Tages der Ewigkeit. Und doch hat die Ewigkeit keine Tage nach Jahre noch Äonen, die sich messen und zählen liessen. Anfangslos und endlos ebbet und flutet ihr uferloses Meer, wandeln die Welten des ewigen Kosmos kreisende Bahnen; anfangslos und endlos tönet die Harmonie der Sphären durch den unendlichen Raum in schweigender Rhythmik das hohe Lied der unergründlichen Weisheit. Aber der Mensch in seiner Endlichkeit leiht dem ewigen Kreise Anfang und Ende; seine Vergänglichkeit binden Raum und Zeit, und so trägt er die zersplitterte Vielheit hinüber in das göttliche Ewigganze. Seinen Augen schwindet und erscheinet die Lebensspenderin Sonne, und so schafft sich der Sterbliche aus seinem Abend und Morgen den ersten Tag. Wann beginnet der

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_152.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)