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wo alles aus den Fugen geht. Besitz, Familie, Namen, alles ist fragwürdig geworden. Was diese Herren Reichsrichter leisten, wenn sie unpolitische Rechtsfälle vor sich haben, kann ich nicht beurteilen. Aber in politischen Fällen sind sie bei aller richterlichen Tenue, die sie der roten Samtrobe schuldig sind, treue Abonnenten der ‚Leipziger Neuesten Nachrichten‘, Träger eines verkniffenen Provinzpatriotismus, der mit dieser Welt, wo Konzerne verkrachen und die Jugend nackt baden geht, nicht mehr fertig wird. Der Globus tanzt nach einem Jazzorchester, alte Familiengrundstücke sinken auf Pfennigwert. Ein Landgerichtsrat erschießt seine ganze Familie. Die Frau will ein neues Abendkleid und quält den Gatten mit bürgerlichen Vorkriegsansprüchen. Die Tochter hat ein Verhältnis mit einem Monteur. Eine Autorität muß es doch geben! Diese Autorität ist wirklich da. In dem Weltbild der Richter gibt es doch einen starken, ruhenden Punkt. Auf diesem Filmband, wo alles durcheinander geht, ist ein großer gespornter Offiziersstiefel überkopiert. Das ist die letzte Autorität, an die sie glauben. Das ist die Überzeugung, die ich ihnen nicht abzusprechen vermag.

Generalswirtschaft

Keine der großen bewegenden Fragen der Zeit stand in unserm Prozeß zur Debatte, nichts von den ungeheuren Gegensätzen zwischen kapitalistischem und sozialistischem Denken, die heute die ganze Welt in zwei Lager teilen. Dieser Prozeß fuhr auf einem besondern deutschen Nebengleis, und deshalb wurde er auch im Auslande so wenig verstanden. Unsre Sünde ist, daß wir einen deutschen Lieblingsgedanken nicht teilen: wir glauben nicht an den Primat des Militärischen in der Politik. Das warf den breiten Graben auf zwischen uns und unsern Richtern.

Überall wird heute mehr gerüstet als vor 1914. Überall tönen mehr Clairons, klirren mehr Tschinellen als vor dem Weltkriege. Die Technik hat die Stahlfabriken in die zweite Reihe, die Chemie in die erste geschoben und die gesamte Industrie in ein einziges Arsenal verwandelt. Aber nirgendwo glaubt man so inbrünstig wie in Deutschland an den Krieg als vornehmstes politisches Mittel, nirgendwo ist man eher geneigt, über seine Schrecken hinwegzusehen und seine Folgen zu mißachten, nirgendwo feiert man kritikloser das Soldatentum als die gelungene Höchstzüchtung menschlicher Tugenden, und nirgendwo setzt man Friedensliebe so gedankenlos persönlicher Feigheit gleich. Auch Frankreich, das sich mit einem Betonwall gürtet und oft genug bereit ist, europäische Vernunft einem zweifelhaften Sicherheitsbegriff zu opfern, kennt nicht diese populäre Vergötzung der Soldatenjacke, wie sie bei uns gang und gäbe ist. Selbst im fascistischen Italien ist die Trägerin eines Programm-Nationalismus nicht die Armee sondern die fascistische Miliz, und Mussolini und sein Grandi

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Carl von Ossietzky: Rechenschaft. Berlin: Verlag der Weltbühne, 10. Mai 1932, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Rechenschaft_13.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)