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seyn müsse. Man kann dieses erkennen 1) aus den Tonarten, ob solche hart oder weich sind. Die harte Tonart wird gemeiniglich zu Ausdrückung des Lustigen, Frechen, Ernsthaften, und Erhabenen: die weiche aber zur Ausdrückung des Schmeichelnden, Traurigen, und Zärtlichen gebrauchet; s. den 6. §. des XIV. Hauptstücks. Doch leidet diese Regel ihre Ausnahmen: und man muß deswegen die folgenden Kennzeichen mit zu Hülfe nehmen. Man kann 2) die Leidenschaft erkennen: aus den vorkommenden Intervallen, ob solche nahe oder entfernet liegen, und ob die Noten geschleifet oder gestoßen werden sollen. Durch die geschleifeten und nahe an einander liegenden Intervalle wird das Schmeichelnde, Traurige, und Zärtliche; durch die kurz gestoßenen, oder in entferneten Sprüngen bestehenden Noten, ingleichen durch solche Figuren, da die Puncte allezeit hinter der zweyten Noten stehen, aber, wird das Lustige und Freche ausgedrücket. Punctirte und anhaltende Noten drücken das Ernsthafte und Pathetische; die Untermischung langer Noten, als halber und ganzer Tacte, unter die geschwinden, aber, das Prächtige und Erhabene aus. 3) Kann man die Leidenschaften abnehmen: aus den Dissonanzen. Diese thun nicht alle einerley, sondern immer eine vor der andern verschiedene Wirkungen. Ich habe dieses im VI. Abschnitte des XVII. Hauptstücks weitläuftig erkläret, und mit einem Exempel erläutert. Weil aber diese Erkenntniß nicht den Accompagnisten allein, sondern auch einem jeden Ausführer zu wissen unentbehrlich ist, so will ich mich hier aus den 13. und folgende bis zum 17. §. des gedachten Abschnittes beziehen. Die 4) Anzeige des herrschenden Hauptaffects ist endlich das zu Anfange eines jeden Stückes befindliche Wort, als: Allegro, Allegro non tanto, – assai, – di molto, – moderato, Presto, Allegretto, Andante, Andantino, Arioso, Cantabile, Spiritoso, Affettuoso, Grave, Adagio, Adagio assai, Lento, Mesto, u. a. m. Alle diese Wörter, wenn sie mit gutem Bedachte vorgesetzet sind, erfodern jedes einen besondern Vortrag in der Ausführung: zugeschweigen, daß, wie ich schon gesaget habe, jedes Stück von oben bemeldeten Charakteren, unterschiedene Vermischungen von pathetischen, schmeichelnden, lustigen, prächtigen, oder scherzhaften Gedanken in sich haben kann, und man sich also, so zu sagen, bey jedem Tacte in einen andern Affect setzen muß, um sich bald traurig, bald lustig, bald ernsthaft, u. s. w. stellen zu können: welche Verstellung bey der Musik sehr nöthig ist. Wer diese Kunst recht ergründen kann, dem wird es nicht leicht an dem Beyfalle der Zuhörer

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Johann Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Johann Friedrich Voß, Berlin 1752, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Quantz_Versuch_Fl%C3%B6te_1752_Seite_108.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)