Seite:Proehle Kinder- und Volksmaerchen 158.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


worden. Da wird die Frau ganz gerührt, daß der lange Winter mit ihrem Ochsen so zufrieden ist und sagt: „Ach, lieber Herr Winter, wenn Ihr wüßtet, wie oft ich an Euch gedacht habe, so oft mein Mann fort war! Den ganzen Tag hab' ich den Ochsen gepflegt und gewartet, damit Ihr ein gutes Stück Fleisch fändet, wenn Ihr kämet. Mein Mann sagte mir aber auch jedesmal, wenn er hier war: Frau, denke an den langen Winter. O, der hält große Stücke auf Euch, das könnt Ihr mir glauben.“ Der lange Winter kneipte die Frau ein wenig in die Wangen, und sie wurde in ihrem Herzen ganz glücklich darüber, von einem solchen Manne so geehrt zu werden. Da glaubte der Fleischer, jetzt sei der Augenblick gekommen, wo er mit der Frau über den Preis abschließen müsse. Er bot ihr wenig genug, weil er sie so gut gelaunt sah. Aber die Frau sagte: „Was denkt Ihr von uns? Das ist mir und meinem Manne an der Wiege nicht gesungen, daß wir Ochsen für Geld fett machen sollen, das thun wir nur aus Liebe. Ja, ja, aus Liebe für Euch, Herr Winter, haben wir den Ochsen fett gemacht. Wir haben auch Geld für Euch gespart, kommt mit herein in die Stube, in der Schublade da liegt es, es werden so nach und nach funfzig Thaler geworden sein.“

Der Fleischermeister staunte, ließ sich aber den Ochsen gefallen und folgte der Frau in die Stube, auch die funfzig Thaler in die Tasche zu stecken. Wie sie in die Stube kamen, sagte die Frau: „Herr Winter, Ihr seid doch wirklich sehr lang. Ich bitte, stellt Euch einmal da an die Thür, damit ich Euch ordentlich messen kann.“ Der große Fleischermeister stellte sich auch richtig an die Thür. Die Frau aber nahm etwas Kreide, stieg auf einen Stuhl und machte einen Strich über seinem Kopfe an die Wand. Dann klatschte sie in die Hände und sprach: „Es ist mir lieb, daß ich Euch gemessen habe. Es wird immer so viel vom langen Winter

Empfohlene Zitierweise:
Heinrich Pröhle: Kinder- und Volksmärchen. Leipzig 1853, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Kinder-_und_Volksmaerchen_158.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)