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die in dem verzauberten Garten auf dem tiefen Wassergraben ritten. Da trat sie an den Graben, und da der älteste Knabe an ihr vorbeiritt, sprach sie: „Es ist kein schönerer Garten auf der Welt als der, darinnen ihr seid. Und wenn ihr noch dreierlei in dem Garten hättet, der um euer Haus herum ist, so hättet ihr Alles, was das Herz sich wünschen kann.“ „Was ist denn das?“ fragte der Knabe. Da antwortete die falsche Schwägerin des Königs: „Springendes Wasser, sprechender Vogel und singender Baum!“ Sie dachte aber, er würde sterben, wenn er auszöge, die drei Dinge zu holen.

Da lenkt der älteste Knabe sein Pferd aus dem Wassergraben, nimmt das Tuch von der Stirn, hängt es an das Schloß und sagt: „Wenn das Tuch blutig wird, so ist mir Unglück widerfahren.“ Damit zieht er fort und der König sieht am folgenden Tage nur noch zwei Kinder auf dem Wasser reiten. Als der älteste Knabe eine Strecke weit geritten ist, sieht er einen großen Baum und ein kleines Häuschen daneben. Unter dem Baume aber sitzt ein alter Mann mit langem Haar und ganz vom Bart verwachsenen Gesichte. Der ermahnt ihn lange Zeit umzukehren; allein der Knabe läßt sich dazu nicht bewegen. Er schneidet dem alten Mann Bart und Haar, und darauf führt ihn der Alte an einen Berg; vor dem Berge binden sie das Pferd des Jünglings an und der Greis sagt: „So zieh denn hinauf, o Jüngling! denn auf dem Berge findest du, was du suchest: springendes Wasser, sprechenden Vogel und singenden Baum. Ich bin der Mann, der den sprechenden Vogel füttern muß. Aber du darfst dich nicht umschauen, sonst steht sogleich dein Leichenstein da, wie dort am Berge schon Tausende von Leichensteinen stehen. An jedem Leichensteine stehen die letzten Gedanken des Menschen, und so würden auch deine letzten Gedanken rasch an dem Leichensteine stehen, wenn du dich umschautest.“

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Heinrich Pröhle: Kinder- und Volksmärchen. Leipzig 1853, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Kinder-_und_Volksmaerchen_012.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)