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Marie Petersen: Prinzessin Ilse

Ich bin nicht die Sage, bin blos das Märchen, schlicht und arm, ohne jegliche Berechtigung auf Deine Gunst, liebe Leserin, kann mich weder auf Tradition stützen, noch das in unseren Tagen so hoch gepriesene Verdienst der Volksthümlichkeit für mich in Anspruch nehmen.

Die Sage ist eine weitläufige Cousine von mir, viel vornehmer, als ich; und die Verwandtschaft mit mir und meinesgleichen ist ihr nie recht genehm gewesen. – Seit ihr nun gar in neuester Zeit die hohe Ehre widerfahren, von einem gottgesegneten Manne, dem größten Meister dieses Jahrhunderts und vieler Jahrhunderte, auf die Wand eines wunderherrlichen Kunsttempels abconcterfeit zu werden, wird sie mich gar nicht mehr ansehen. Wenn Du, liebe Leserin, vielleicht zufällig in der prächtigen Königsstadt wohnest, oder doch gewesen bist, wo ein edler, kunstsinniger Monarch jenen Tempel aufbauen läßt, so wirst Du nicht versäumt haben, was Keiner versäumt: das entstehende Wunderwerk zu beschauen, und wirst also auch meine weitläufige Cousine kennen, wie sie da sitzt und auf die Raben horcht, die ihr in die Ohren schreien, und mit ihrem Stab in Schutt und Moder wühlt, Kronen und Menschenknochen und alterthümliche Waffen zu Tage fördert. Sie braucht solche Raritäten, um sich bei den Menschen zu legitimiren, um ihren alten Adel und ihre Glaubwürdigkeit zu beurkunden. – Ich kann mich nun gar nicht legitimiren, bin nicht adlig und nicht einmal glaubwürdig, – und dennoch würde es mich bitter weh thun, wenn Du mich eine kleine Lügnerin schelten wolltest, liebe Leserin. Ich möchte Dir so gerne auch die Wahrheit erzählen, und gebe mir alle Mühe; aber da ich nur

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Marie Petersen: Prinzessin Ilse. Alexander Duncker, Berlin 1857, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Prinzessin_Ilse_(Marie_Petersen).pdf/7&oldid=- (Version vom 1.8.2018)