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Trotzdem die jüdische Religion kein Dogma und keinen Priester als Vermittler zwischen Gott und dem Menschen kennt, hat sich im galizischen Volke eben aus der Wichtigkeit der Gesetzesdeutung, die ein Talmud unkundiger Laie nicht vornehmen kann, in den sogenannten Wunderrabbis eine Art Priesterkaste gebildet, die von ihrem Einfluß auf das Volk den ausgiebigsten, und unheilvollsten Gebrauch macht. Ihr Einfluß ist furchtbar, denn er lähmt nicht nur jede Regung fortschrittlichen Gedeihens, sondern er tötet auch den Geist der jüdischen Lehre. Es gibt in Galizien Dynastien von Wunderrabbis, bei denen sich die „Erleuchtung“, der Einfluß und das Geschäft von Vater auf Sohn und, wenn nötig, auch auf den Schwiegersohn vererbt. Es wäre wahrscheinlich ein Unrecht gegen einige Männer, wollte man sie alle als Betrüger hinstellen; wurden wir (als Frauen!) doch bei dem einen und anderen in „Audienz“ empfangen, der keinen ganz unsympathischen Eindruck machte.

Die Rabbinersfrauen, „Rebbezen“, fanden wir alle intelligenter als die Männer in ihrer talmudischen Weisheit. Der Verkehr mit dem Publikum im Vorzimmer der Rabbiner scheint sie klüger und weltgewandter zu machen: das äußerte sich sichtlich in dem Verständnis für das, was unsere Mission für Land und Leute bedeuten sollte. Einige der Frauen machen mit dem eigentümlichen Kopfputz, der die Haare bedeckt und die Stirne mit einem Perlendiadem krönt, einen sehr vornehmen Eindruck.

Die Wunder, die die Rabbis tun, bestehen meistens in Ratschlägen geschäftlicher, medizinischer oder juristischer Art, die, wenn sie sich als wirksam erweisen, aus einer gewissen Routine im Übersehen der Verhältnisse, oder psychologischen und suggestiven Einflüssen hervorgehen. Daß manche Wunderrabbis Agenten haben, die in der Eisenbahn, in Wirtschaften und auf Märkten von ihren Wundern erzählen, ist ein Geschäftstrick, der aus der Konkurrenz entspringt und mit der modernen Reklame in Zusammenhang zu bringen ist.

Aber nicht allen gelingt es, durch den Aberglauben und die Beschränktheit ihrer Anhänger Reichtümer zu sammeln, wie die Herren von Chortkow[1], Sadagora[2] und Belschitz u. s. w., die ihren Einfluß auch auf das politische Gebiet spielen lassen, indem sie die Wahlen beeinflussen. Viele Wunderrabbis sind arm und bleiben

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Heute Tschortkiw.
  2. Sadhora war damals ein Zentrum des Chassidismus. Heute ist es ein Stadtteil von Czernowitz.
Empfohlene Zitierweise:
Bertha Pappenheim, Sara Rabinowitsch: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Frankfurt am Main: Neuer Frankfurter Verlag GmbH, 1904, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Pappenheim_Lage_42.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)