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Beziehung herrschen, ist unbeschreiblich, und es kann hier nur die Gewöhnung an Schmutz in allen Aggregationszuständen eine gewisse Immunität gegen manche Erkrankungen bringen. Die überwiegende Mehrzahl der Cheder-Jugend besteht in blassen, stumpf dasitzenden, mitleiderregenden Kindergestalten; doch manches Köpfchen taucht auf, das intelligent und lebhaft im Ausdruck, vielversprechend in keckem Übermut, von zäher Kraft scheint, und trotz des Cheders ein Mensch zu werden verspricht.

Den sich selbst so nennenden „intelligenten“ Kreisen der Städte, Städtchen und Dörfer, den Ärzten, Advokaten, Gemeindevorständen und Kreisrabbinern sind diese Zustände bekannt. Ich habe aber nirgends gehört, daß sie ihre Intelligenz angestrengt hätten, um wenigstens räumlich und hygienisch die Cheder zu bessern, wenn sie es auch aus den verschiedensten Gründen nicht wagen wollen, sie geistig zu reformieren.

Und diesen Chedern gegenüber stehen die Schulen der Baron Hirsch-Stiftung, für deren Besuch die Eltern der Schulkinder früher regelmäßig, jetzt noch häufig mit dem Bann bedroht wurden, – aus Gründen, die den jüngsten Vorgängen in Trier ganz analog sind.

Die naheliegenden Fragen sind: Wie verhält sich die österreichische Regierung[1] diesen Zuständen gegenüber? Gibt es in Österreich keine Schulbehörde, keinen Schulzwang? Die Antwort darauf ist, daß die Zustände der österreichischen Regierung bekannt sein können und wohl auch tatsächlich bekannt sind, daß es aber dem Geiste der österreichischen Regierung besser zusagt, Tausende von Analphabeten heranwachsen zu sehen, als ebensoviele latente Intelligenzen durch Schulbildung zum Denken zu bringen.

Der Schulzwang besteht theoretisch „auf dem Papier“, da aber die vorhandenen Volksschulen nicht ausreichen würden, auch die Kinder der jüdischen Staatsbürger aufzunehmen, so ist es finanziell ein großer Vorteil, das Bestreben der galizischen Dunkelmänner zur Verdummung des Volkes zu unterstützen, indem man es stillschweigend gut heißt.

Die Jahresberichte der Baron Hirsch-Stiftung erzählen von ihrem Kampf gegen die Jahrhunderte alten Vorurteile. An den meisten Orten sind aber heute die Stiftungsschulen Institutionen geworden, deren segensreiche Wirksamkeit auch innerhalb der orthodoxen Gemeinden anerkannt ist.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. „Königreich Galizien und Lodomerien“ gehörte von 1772 bis 1918 zu Österreich.
Empfohlene Zitierweise:
Bertha Pappenheim, Sara Rabinowitsch: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Frankfurt am Main: Neuer Frankfurter Verlag GmbH, 1904, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Pappenheim_Lage_13.png&oldid=- (Version vom 15.9.2016)