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weil sie in einem Albkessel liegt und ein Enclave des benachbarten Bezirks bildet, sondern auch, weil sie ihre Kinder hinaus in die weite Welt schickt und das Fremdartige mit dem Einheimischen eine innige Verbindung eingeht, ohne letzteres jemals tilgen zu können. Diese erwerbsfreudigen Blumen- und Samenhändler ergießen sich alljährlich in allen Richtungen der Windrose fast über die ganze civilisiirte Welt. Deutschland und die Schweiz werden weit überschritten, auf der einen Seite Oberitalien, auf der andern Schweden und Norwegen bereist, am meisten aber gegen Osten und Westen ausgeschritten, in Rußland bis Petersburg und Odessa, bis an das caspische Meer und an den Fuß des Kaukasus vorgedrungen, jenseits des Ozeans aber sowohl der Süden als der Norden Amerikas besucht. – Die Wanderung wird, nachdem man sich aus Haarlem und Berlin mit Zwiebeln, aus Nürnberg, Ulm u. a. O. mit Sämereien versehen, jedes Jahr nach Ostern angetreten. Die in Europa Reisenden finden sich um Martini erstmals, um Weihnachten zum zweitenmal im Heimathorte ein, um hier bis Ostern zu verweilen. Die in Amerika Reisenden dagegen bleiben in der Regel 3–4 Jahre aus, kehren dann aber auch in der Regel mit größerem Gewinn zurück. Dieser Welthandel trägt Jedem seine Früchte. Wirft er auch nicht größere Reichthümer ab, so gewährt er doch den Meisten ein anständiges Auskommen, erweitert den Ideenkreis und gibt die äußere Politur, Redefertigkeit und Gewandtheit, auch ein höheres Selbstbewußtsein, welches sich durch das ganze Benehmen, durch eine gewählte, oft etwas geschraubte Ausdrucksweise und einen eigenthümlichen Mischdialect verräth. Die Schattenseite offenbart sich fast mehr noch in der körperlichen als in der sittlichen Sphäre. Die Lungenschwindsucht bei Erwachsenen, die Scropheln bei Kindern sind eine gar häufige Erscheinung. Auffallend groß ist die Sterblichkeit der Säuglinge und die Krankheit der Handelswelt, die Seelenstörung, ist gleichfalls reichlich vertreten.

In der Darstellung der Volksgebräuche können wir uns kurz fassen, da die rastlos nivellirende Zeit sie fast ganz aufgerieben hat.

Am wenigsten Volksthümliches bietet die Taufe dar. In einigen Gemeinden wird noch geschossen, aber nur den Knaben oder gar nur dem Erstgebornen, oder, wie in Kusterdingen, nur demjenigen neuen Weltbürger, welchen eine Jungfrau aus der Taufe hebt. In wenigen Gemeinden wird der Gevattersmann mit Kaffee, Wein, Brod und Käse tractirt.

Die Hochzeiten theilen sich in gewöhnliche und solenne. Bei letztern, den Hochzeiten der Reichen, wird vor dem Kirchgang den

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Karl Eduard Paulus: Beschreibung des Oberamts Tübingen. H. Lindemann, Stuttgart 1867, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:OATuebingen_117.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)