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selbst von Hofleuten auf die linke Schulter gehängt. Junge „Kerle“ schleifen Pantoffeln an den Füßen nach und klopfen damit wie alte Weiber, und Andere lassen sich seidene Nestel mit silbernen Steften an die Schuhe machen. Überhaupt aber, sobald wir etwas Neues vom Ausland ersehen, sind wir „die Affen; dieses ist eine große Leichtfertigkeit, die uns Deutsche bei anderen Völkern sehr verkleinert.“ – Die erste Perrücke kam 1610 aus Frankreich hierher. Eine allgemeine Kleiderordnung von 1656 wollte dem Luxus steuern, fruchtete aber nicht viel; doch scheint sie bewirkt zu haben, daß der Mantel bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts das Hauptstück der Kleidung blieb, ohne welchen selbst die Gymnasisten weder Schule noch Kirche besuchen durften. Das Degentragen war allgemein und wurde erst vor etwa 200 Jahren beschränkt; 1723 ward es den Gymnasisten der VII. Classe, den Gold- und Silber-Arbeiter-Gesellen, 1740 den Apothekergehilfen, Handlungsbuchhaltern, Barbier- und Zinkenisten-Gesellen wieder gestattet. Inzwischen ist die Pariser Mode zu fast unumschränkter Herrschaft gelangt. In der äußeren Erscheinung verschwindet beinahe aller Unterschied des Standes, und vielfach sucht Jeder es den Andern sowohl in Kleidern, als in Befriedigung anderer eingebildeter Bedürfnisse gleich zu thun, wodurch Manche das Elend, in welches sie frühe genug verfallen, sich selbst bereiten. Auch die Weingärtner haben ihre langen blauen Sonntagsröcke, Lederhosen, Schuhe und Dreispitze abgelegt, und nur die Frachtfuhrleute und Wagenspanner sind noch ihrer hergebrachten Tracht treu geblieben. 1

Von geselligen Vergnügungen standen lange Zeit die Fastnachtslustbarkeiten oben an, die der Hof auch nach der Reformation glänzend beging (1610 wurden die ersten venetianischen Masken hierher gebracht). Ein Nachklang derselben im Bürgerstande war das 1618 erwähnte „Gassatum gehen“, ein Umgang mit Musik, Mummerei und Tänzen. In Nachahmung der Pariser Vergnügungen wurden, wie sehr auch die Stadtgeistlichen dagegen eiferten, 1715 die Carnevale mit Redouten eingeführt, auf welchen sich nach herzoglichem Befehl alle angesehenen Einwohner bei Strafe einzufinden hatten und 1716 alle Zinkenisten und Musikanten des Landes zum Aufspielen hierher kommen mußten. Im Jahr 1775 führte Herzog Carl Eugen eine mit der Maimesse verbundene venetianische Messe ein, wobei in dem prächtig erleuchteten unteren Stockwerke des Herrenhauses Casino’s statthatten. Alle diese Lustbarkeiten, von welchen die öffentlichen Redouten noch in unsere Zeit hereinreichten, wollten jedoch bei den ernsteren protestantischen Bürgern keinen rechten Anklang finden. Im Übrigen fanden unsere

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Rudolph Moser: Beschreibung des Stadtdirections-Bezirkes Stuttgart. Eduard Hallberger, Stuttgart 1856, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:OAStuttgartStadt0095.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)