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Marienkirche zu Reutlingen und der schon genannten Heiligkreuzkirche zu Gmünd. An den beiden vorderen Ecken erheben sich gar zierliche vieleckige mit Strebepfeilerchen besetzte Treppenthürme, welche die Aufwärtsbewegung des Thurmes auf das Schönste unterstützen. Dazwischen über dem großen mit hohem Wimperg bekrönten Hauptportale stehen unter strengen Baldachinen die großen Bildsäulen der zwölf Apostel, und über dieser herrlichen Gestaltenreihe spannte sich früher von einem Treppenthürmchen zum andern eine leichte durchbrochene Gallerie auf reichgegliedertem Flachbogen schützend herüber; sie wurde leider vor einigen Jahrzehnten ohne Noth entfernt, wie überhaupt der Thurm in unserem Jahrhundert manche durch Nichts zu rechtfertigende Verstümmelungen erlitt. An seiner Süd- und Nordseite sind ähnliche Prachtportale, und in der Höhe der ehemaligen Gallerie tiefen sich an allen drei freien Seiten große hochschlanke giebelförmige Nischen ein, einst mit feinem Maßwerk übersponnen, im Grunde aber von je einem schön gefüllten Rundfenster (Rosette) durchbrochen, und ganz wieder an den Marienthurm in Reutlingen erinnernd. Außer diesen Nischen ist der Thurm am zweiten und dritten Geschosse mit reichem gothischem Leistenwerk gegliedert, und geht mit dem vierten Geschoß in’s Achteck und in den spätgothischen Geschmack über. Doch führen seine beiden obersten Geschosse (das vierte und fünfte) die Behandlung der unteren frühgothischen Theile in sehr geschickter Art weiter, so daß der ganze Thurm fast wie aus einem Guß erscheint. Die zwei obersten Geschosse bestehen aus rauhkörnigem und unverwitterbarem oberem Keupersandstein, während die drei unteren zum größten Theil aus feinkörnigem, aber leider leicht verwitterndem unterem Keupersandstein, Schilfsandstein, erbaut sind. Diese zwei obersten Geschosse werden von je acht großen mit geschmackvollem Fischblasenwerk gefüllten Spitzbogenfenstern durchbrochen, von reichen Lilienfriesen und von drei schönen Kränzen (Steingeländern) umzogen, an den Ecken von zierlichen Klebfialen belebt. Der Thurm endigte früher in einen durchbrochenen achtseitigen Steinhelm, der aber zu Ende des vorigen Jahrhunderts abgetragen und durch ein hölzernes mit Blech gedecktes Pyramidendach ersetzt wurde, wodurch der leicht aufstrebende luftige Eindruck des herrlichen Bauwerks beeinträchtigt wird. Bei einer Restauration im Jahre 1820 fand man auf dem oberen Gange des Thurmes einen Stein mit der Jahreszahl 1473, was so ziemlich die Erbauungszeit der obersten Geschosse des Thurmes bezeichnet. 1

Betrachten wir nun die am Thurm in so großer Menge angebrachten Bildhauereien. Das Portal der Westseite enthält in seinem spitzen Bogenfeld Christus als Weltrichter, das Schwert

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Karl Eduard Paulus: Beschreibung des Oberamts Rottweil. H. Lindemann, Stuttgart 1875, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:OARottweil0187.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)