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Die Reichs-Theater


Als vor einigen Wochen bekannt wurde, dass die vor dem Ruin stehende Städtische Oper Berlin vom Reich übernommen werden solle, schien es zunächst, als habe in dem Theater-Duell Göring-Göbbels der verschlagenere Propagandamann seinem Gegner eine Schlappe beigebracht. Den von Göring aus dem Bereich des Kultusministeriums herausgenommenen Staatstheatern wurde der eigene Göbbels-Betrieb entgegengestellt.

Wahrscheinlich haben persönliche Eitelkeiten und Eifersüchteleien der beiden Nazi-Primadonnen in diese Entscheidung hineingespielt. Aber man darf darüber nicht den tiefer liegenden Kern der Sache übersehen. Die Städtische Oper stand vor dem Zusammenbruch. Die Stadt Berlin wollte oder konnte nicht helfen, das Land Preussen hatte kein Interesse daran. Es blieb nur Reichshilfe oder Auflösung. So wurde die Städtische Oper – ein schon vordem stets zu kostspielig aufgezogener Renommierbetrieb – der Gruppe jener Theater eingereiht, die bereits gegenwärtig oder von nächster Zeit ab vom Reich gehalten werden: dem früheren Grossen Schauspielhaus, dem ehemaligen Deutschen Theater, der Volksbühne. Bisher privatwirtschaftlich betrieben, sind sie alle jetzt nicht mehr existenzfähig. Die Schliessung aber muss auf jeden Fall vermieden werden. Nachdem Göbbels laut eigener Mitteilung soeben erst mit Hilfe der Konzentrationslager Theater und Kunst gereinigt, nachdem er „die Kunst wieder zum Volk, das Volk wieder zur Kunst geführt“ und damit „das ganze Geistes- und Kulturleben auf eine neue Basis gestellt hat“ – objektiv absolut wahr – wäre es selbst für Nazi-Gemüter etwas erstaunlich, diese Errungenschaften sich praktisch nur als Schliessungen der bekanntesten Institute auswirken zu sehen.

Aber die Bewegung zielt weiter. Die meisten deutschen Theater sind Landes- oder städtische Bühnen, ausser in Berlin, Hamburg, München gibt es nur noch vereinzelte Privattheater seriösen Charakters. Im gleichen Masse, wie die Länderhoheiten eingeschränkt, die Eigenrechte der Städte beseitigt werden, fallen die Theater automatisch an das Reich. Im Propagandaministerium sitzt der Reichsdramaturg, dem die Entscheidung über Bedenklichkeit oder Unbedenklichkeit aller neuen Bühnenstücke obliegt. Damit ist de facto die Spielplangestaltung aller deutschen Bühnen hinsichtlich der Neuheiten bereits einheitlich geregelt, und die Uniformität der Theater genau so festgestellt, wie die der Presse. Eine gewisse Eigenbedeutung könnten noch die Landesbühnen der beiden Staaten bewahren, die sich bisher dem Reich gegenüber als Machtfaktoren behauptet haben: Preussen und Bayern. Aber auch hier ist gerade im Theaterwesen nicht der mindeste Wille zur Selbständigkeit. Die Leiter dieser Bühnen sind Puppen, die tanzen, wie Göbbels pfeift, und froh sind, wenn man ihnen überhaupt noch erlaubt, zu tanzen.

Nimmt man hierzu die immer wichtiger werdende Beteiligung des Reiches an Bayreuth, an Oberammergau, so zeigt sich, dass die Angelegenheit Städtische Oper, Berlin, nur eine Episode ist in einem Zentralisierungsprozess, der das gesamte deutsche Theater mit Haut und Haaren als Mahlzeit für den stets hungrigen Propaganda-Minister zurichtet.

Hierauf – nicht nur auf eine kleine Häkelei mit Göring – hat Göbbels hingesteuert und sich seine Sabotage-Arbeit am deutschen Theater anfangs sogar einige Mühe kosten lassen. Aber es hätte bei einiger Geduld gar keiner Anstrengung bedurft. Dank der wahrhaft „zersetzenden“ Auswirkung des Rassenprinzipes musste der Zerfall des bisherigen Theaters vom Publikum, von den Ausübenden, von den Werken her zwangsläufig eintreten. Unaufhaltsam wie der Sand des Stundenglases und mit genau so klar berechenbarer Gesetzlichkeit rinnt der gesamte deutsche Theaterbetrieb in die Propaganda-Zentrale. Was dort gewollt und zuerst mit allerlei Hilfsmitteln erstrebt wurde, stellt sich jetzt als natürliches Ergebnis in unbeschränktem Umfange ein. In absehbarer Zeit wird es überhaupt nur noch Reichstheater geben. „Was man in der Jugend sich wünscht, hat man im Alter die Fülle“, meint Goethe. Göbbels ist zwar durch seinen Zynismus davor geschützt, sich über solches Ergebnis Sorgen zu machen. Reine Freude aber wird er trotzdem umso weniger daran haben, je mehr sich hieraus ein Dauerzustand entwickelt.

Denn was eigentlich hat er erreicht? Er hat durch die Vereinheitlichung des Theaters wie in so vielen anderen Dingen äusserlich das Sowjet-Beispiel befolgt und durch diese Nachäffung einer Organisationsmethode den so viel missbrauchten Begriff „Kulturbolschewismus“ zum erstenmal in Deutschland amtlich praktisch angewendet. Er hat auch die Personalgruppen jetzt fest in der Hand: wer überhaupt noch am Theater existieren will, muss alle Bedingungen über Gagen, Arbeitszeit, Beschäftigungsart widerspruchslos annehmen. Die Scheidung von Herren und Knechten ist dabei konsequent durchgeführt. Die Kleinen beziehen geringere, die Prominenten höhere Einkommen als vordem. Wo das Stellengehalt nicht starmässig genug ist, wird dem Betreffenden irgendeine Staatspfründe als Nebenamt zugewiesen. Man hat auch freie Hand für jede Art von Familienpolitik, wie sie z. B. der Reichsjugendführer Baldur v. Schirach zugunsten seiner theaterfreudigen Angehörigen betreibt.

Die Frisur also wäre in Ordnung, aber damit allein kann man noch nicht Theater spielen. Es fehlen zwei wichtige Faktoren: Publikum und Stücke. Sie fehlen in der Oper, sie fehlen im Schauspiel. Sie fehlen, weil das Eine fehlt, das erst die diktatorische Vereinheitlichung des Theaters rechtfertigt: die künstlerisch fruchtbare Ideologie. Sie mag beschaffen sein, wie sie will – aber dasein muss sie. Der Bolschewismus hat sie, der Nationalsozialismus aber hat nur die rein negativ gerichtete Blut- und Rassenmystik. Aus ihr kommt keine Kunst. Dieser Mangel muss sich bei dem sensiblen Instrument des Theaters naturgemäss noch empfindlicher bemerkbar machen, als beim Film. Die bisher vergangene Zeit hat für das gesamte deutsche Theater nicht einen einzigen – sei es selbst qualitativ minderwertigen – Erfolg aufzuweisen. Nirgends tauchte ein auch nur halbwegs seriöser „Schlager“ auf, wie ihn sogar unfruchtbare Spielzeiten sonst gebracht haben. Obwohl es Uraufführungen über Uraufführungen, von Johst über Göbbels bis Kube, von Koennecke[1] bis Vollerthun,[2] von der germanischen Urgeschichte bis zur Zukunft gab, hat sich alles als künstlerisch ebenso belanglos wie theatermässig unzulänglich erwiesen. Die Theater müssen kaputt gehen, weil sie nichts zu spielen haben. Die Menschen wollen nichts von den Komödien wissen, selbst wenn sie, wie beim Grossen Schauspielhaus, freien Eintritt haben.

Sie gehen nicht hin, weil es ihnen keinen Spass macht, und es macht ihnen keinen Spass, weil dieses Theater die Phantasie ebenso einschläfert wie das Denken. Mit der grossen Trommel allein kann man keine Sinfonie aufführen.

Die ganze, äusserlich so grossartige Reichs-Theater-Aktion ist einer der übelsten Bluffs – sofern Rangunterschiede möglich sind – des Propaganda-Hokuspokus. Sie ist nichts, als die Fanfare der fortschreitenden Zerstörung, scheinbar eine Sanierungs-, in Wahrheit eine Desperado-Aktion. Hinter ihr verbirgt sich die Unfähigkeit, die gegebenen Probleme überhaupt zu sehen, geschweige mit ihnen fertig zu werden.



  1. Vorlage: Könnecke
  2. Vorlage: Vollerthum
Empfohlene Zitierweise:
Paul Bekker: Musik (Artikel für das Pariser Tageblatt). , Paris 1934–1937, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Musik_(Artikel_f%C3%BCr_das_Pariser_Tageblatt).pdf/24&oldid=- (Version vom 1.8.2018)