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„Alle Arier werden Brüder“


Als die deutschen Sender neuerdings daran gingen, sich ausserhalb der Parteipropaganda wieder musikalisch zu betätigen, verfiel man auf die Idee, eine grosse Beethoven-Sendung als Darstellung des Gesamtwerkes zu geben. Das war freilich nichts neues, nachdem seit etwa einem halben Jahrhundert die Beethovenfeste den Hauptbestand der musikalischen Ereignisse bilden. Durchaus neu aber war die offizielle Begründung. Sie besagte, das liberalistische Zeitalter habe zu seinen vielen sonstigen Sünden auch noch die Entstellung Beethovens gefügt. Erst der Nationalsozialismus werde das Beethovenbild säubern und den wahren Beethovengeist verkünden.

Dass Hitler – nicht, wie es früher hiess, Kolumbus – Amerika entdeckt hat, wissen wir. Aber auch Beethoven haben wir nicht gekannt?

Indessen – lassen wir die Albernheit jenes Vorspruches auf sich beruhen. Zugegeben ist, dass die Erfassung der grossen kulturschöpferischen Erscheinungen stets wechselt, sobald eine neue Generation mit der Gabe produktiven Schauens auf den Plan tritt. Gerade Beethoven gegenüber haben sich die Deutungen in dem einen Jahrhundert seit seinem Tode dauernd verändert. E. Th. A. Hoffmann, Marx, Wagner, Berlioz, Liszt – jeder von ihnen hat ein anderes Beethovenbild geprägt, und keines davon lassen wir heut noch gelten. Dabei beruhten diese verschiedenen Erfassungen des Genies nicht etwa auf ungenauer Materialkenntnis, wie sie lange Zeit Bach gegenüber bestand. Beethoven kannte man, auch war man dem Problem geistig gewachsen. Wer dürfte sagen, er verstünde sich auf Beethoven besser als ein Berlioz und ein Wagner? Und doch gelten ihre Interpretationen heut nicht mehr als zu uns gehörend, weil sie aus nicht mehr vorhandenen Voraussetzungen erfolgten. Konnte doch Wagner sich noch so irren, dass er eine der für Beethoven besonders charakteristischen Klanghärten: den berühmten Zusammenprall des Es-dur-Themas mit dem Fragment des Dominant-Septakkordes bei der Reprise des 1. Eroika-Satzes für einen Druckfehler hielt und in reines Es-dur korrigierte. Ein Beleg nicht etwa für die Kurzsichtigkeit Wagners – er wusste trotzdem mehr von Beethoven als alle andere zusammen –, sondern für die verweichlichte Klanggesinnung jener Zeit, der auch Wagner unterstand. Was sich aber hier unmittelbar am Klangbeispiel der Musik zeigt, das prägt sich ebenso in der musikalischen Interpretation und in der literarischen Deutung aus. Immer wieder ändern sich die Bilder der grossen schöpferischen Menschen. So wenig wir eines davon als authentisch bezeichnen können, so wenig dürfen wir einer neuen Generation das Recht bestreiten, sich ihr eigenes Geniebild zu formen.

Eine Grenze allerdings ist gesetzt: diese Formung muss einen sinngemässen Rückhalt im gegebenen Objekt haben. Sie darf nicht willkürlich sein, sie darf nicht aus unsachgemässen Motiven eine Anpassung des Genies an egoistische Zwecke des Interpreten versuchen. Man kann etwa Voltaire auf mancherlei Arten deuten – nur nicht als Verherrlicher der Kirche. Man kann aus Lessing allerlei herauslesen – keinesfalls aber die Rechtfertigung des Antisemitismus. So kann man auch Beethoven in vielerlei Gestalten sehen, niemals aber in der des Hakenkreuz-Ideologen. Hier versagt die dehnbarste kulturelle Wandeldekoration, Beethoven und Nazitum – das ist, wie wenn die Kommunisten den Grossen Kurfürsten als Parteigründer proklamierten.

Dieser Beethoven war die Inkarnation alles dessen, was die Nazis hassen, und er hasste alles, was sie für schön halten. Er war vor allem das Urbild des „liberalistischen Demokraten“. Nicht nur aus politischer Ueberzeugung. Er war es aus elementarer Notwendigkeit, denn sein geistiges Dasein wurde möglich nur durch die Vorstellung absoluter Freiheit der Persönlichkeit. Er zerriss das für Napoleon bestimmte Widmungsblatt der Eroika, als er von der Kaiserproklamation hörte. Der junge Rheinländer hatte die grosse Revolution miterlebt, und es gibt wohl unter allen Künstlern der damaligen Zeit keinen, der die Ideen der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit inbrünstiger in sich aufgenommen hat, als Beethoven. Nicht nur als Privatperson – als Schaffender vor allem. Seine gesamte Kunst war Botschaft des Triumphes der Freiheit, der Menschlichkeit, der Hoheit des Geistes. Ob er in der C-moll-Symphonie den Sieg des Menschen über das Schicksal feiert, ob er die Gestalt des über Tyrannengewalt im Tode triumphierenden Egmont verklärt, ob er ähnlich gerichtete Ideen in der programmlosen Instrumentalmusik verherrlicht – stets ist es der nämliche Grundbetrieb. „Es sucht der Bruder seine Brüder“, sagt der Minister bei der Befreiung der Gefangenen in „Fidelio“. „Alle Menschen werden Brüder“ und „diesen Kuss der ganzen Welt“ singt der Chor in der Neunten. Die Worte sind freilich von Schiller, der ja ebenfalls so ein liberalistisch demokratisches Wesen war – aber Beethoven hat sie sich zu eigen gemacht.

Kann ein SA-Mann so etwas singen? Müsste es da nicht heissen „alle Arier werden Brüder“ und „diesen Kuss der deutschen Welt“? Wie dirigieren eigentlich die Dirigenten heut so etwas in Deutschland? Wie machen sie das – nur sich selbst, nur dem eigenen Gewissen gegenüber? Irgend etwas müssen sie sich doch denken, wenn sie Beethoven dirigieren. So verpönt das Denken auch gegenwärtig ist – der liberalistische Beethoven verlangt es trotzdem. Man muss bei Beethoven nicht nur denken, man muss auch glauben. Glauben sie an Beethoven? Wie verhält sich dann die Beethoven-Lehre von der Menschenliebe und Brüderlichkeit zur Nazi-Lehre von der Verschiedenwertigkeit der Rassen? Oder glauben sie an das Hakenkreuz? Dann benutzen sie also Beethoven gegen sein eigenes Wort und gegen ihre geistige Verantwortung als Spekulationsobjekt – weil man mit diesem liberalistischen Demokraten noch die besten Effekte und die sichersten Geschäfte macht. Das sind dann die amtlich konzessionierten Virtuosen, die mit ihrem auf Nazideutsch patentierten Beethoven-Musterköfferchen als Propaganda-Reisende der Göbbels-Manufaktur die Welt durchziehen.

Hier aber gilt es zu bekennen: Glaube oder Nichtglaube? Ein Mittelding gibt es nicht. Mit diesem Beethoven ist nicht zu scherzen. Er wirft die ganze Hitlerei über den Haufen. Man muss ihn verbieten. Man muss ihn verbrennen.

Das ist die einzige neue Deutungsmöglichkeit, die der Nationalsozialismus gegenüber Beethoven hat.



Empfohlene Zitierweise:
Paul Bekker: Musik (Artikel für das Pariser Tageblatt). , Paris 1934–1937, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Musik_(Artikel_f%C3%BCr_das_Pariser_Tageblatt).pdf/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)