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Italienische Oper


Was ist mit der italienischen Oper?

Seit Puccini hört man nicht mehr viel von ihr, zum mindesten nicht so viel, dass dem grossen Publikum ein Fortgang der Produktion bewusst wird. Von den drei berühmten „Veristen“ ist nur Mascagni noch bei der Arbeit. Von Zeit zu Zeit wird irgendeine Oper von ihm aufgeführt, aber für die Welt bleibt er der Komponist der „Cavalleria“, wie Leoncavallo der des „Bajazzo“. Mascagni heimst als Dirigent gelegentlich noch alte Komponistenehren ein, Leoncavallo ist schon lange tot. Auch Puccini ruht bereits seit Jahren in seinem idyllischen Landhaus bei Lucca, umgeben von Manuskripten und Briefen, im Raum neben dem Arbeitszimmer – einer der seltsamsten Künstler-Grabstätten. Man hat den Eindruck: er ist schlafen gegangen.

Seit diesen Dreien ist nichts aus Italien gekommen, was die Welt bewegt hätte. Das liegt zunächst an der Beschaffenheit der italienischen lyrischen Bühne. Einstweilen beschäftigt sie sich hauptsächlich mit der Verarbeitung des Verdi-Werkes. Dazu kommen die älteren Italiener: Bellini, Rossini, Donizetti, schliesslich Puccini und wenige Ausländer. Damit ist die Leistungsfähigkeit der Theater wie des Publikums erschöpft. Ganzjährig spielende Operntheater gibt es überhaupt nicht, Mailand und Rom haben ungefähr von Weihnachten ab einige Monate Oper, andere grosse Städte: Florenz, Turin, Palermo nur wenige Wochen. In diesen will das Publikum nichts Neues hören. Es wartet auf seine Lieblingsmelodien, zudem wäre gar keine Zeit für die Einstudierung von Novitäten.

Was soll der arme Opernkomponist machen? Entweder er versucht, im Ausland aufgeführt zu werden, oder er verzichtet auf das Theater und schreibt Kammermusik. Daher hat sich die italienische Instrumentalproduktion in den letzten Jahren auffallend gesteigert. Zu alledem kommt noch das künstlerische Problem selbst. Die italienische Oper strebt neuerdings nach Befreiung von der Puccini-Linie der Gefühlstragik. Sie möchte sich ein neues Gebiet der spielhaften Heiterkeit erobern, dessen, was Busoni „Serenita“ nennt. Sie wird zudem miterfasst von den Stilproblemen der neuen Musik, und schliesslich ist auch die allgemeine geistige Situation in Italien nicht ausser Acht zu lassen. Der Fascismus legt dem Künstler zwar keine programmatischen Bindungen auf, er erwartet nur, dass sich jedermann den politischen Tatsachen einordne. Das geschieht zum grössten Teil. Damit aber ist noch nichts für die Oper gewonnen. Ob Zustimmung, ob Ablehnung gegenüber der politischen Haltung ist Nebensache, die Hauptfrage lautet: welche geistigen Antriebe vermag der Fascismus aus sich heraus der Kunst, namentlich dem Theater zu geben? Ist er eine produktiv oder eine stagnierend wirkende Kraft?

Diese verschiedenen Umstände bestimmen das gegenwärtige Bild der italienischen Oper und ihrer Repräsentanten. Sie alle sind keine Jünglinge mehr, richtige Jugend fehlt der heutigen Musik in ganz Europa. Casella, Malipiero, Pizetti, die meistgenannten der sozusagen „linken“ Gruppe, sind bereits Fünfzigjährige oder noch älter. Von ihnen ist Malipiero die experimentell, Pizetti die ästhetenhaft gerichtete Natur, während Casella sich einen glücklichen Ausgleich von zeitgenössischen Anregungen und alten Grundideen geschaffen hat. Dieser klare, vielleicht etwas nüchterne Turiner macht eine sozusagen realpolitische Musik. Sie zeigt stets Intelligenz, geschmackliche Sicherheit und Kultur der Form, guckt dabei gelegentlich der problematischen Zone über die Mauer, ohne sie indessen je zu betreten. Casella, auch in den Fragen des praktisch pädagogischen Musikbetriebes gut versiert, ist kürzlich mit einer Oper „Frau Schlange“ (nach Gozzi) hervorgetreten, in der anscheinend die alte Buffo-Linie in neuer Deutung aufgenommen wird. Einen ähnlichen Versuch hat bereits vor Jahren Castelnuovo-Tedesco mit seiner „Mandragola“ unternommen.

Zwischen diesen, sagen wir: anti-puccinistisch gerichteten Musikern und der Vergangenheit steht noch eine andere, ein wenig ältere Gruppe italienischer Opernkomponisten. Zu ihnen zählt Pedrollo, dessen „Schuld und Sühne“ in Deutschland mehrfach gegeben wurde, Montemezzi, Giordano. Der wichtigste und begabteste von ihnen ist neben dem akademisch gerichteten Respighi der Neapolitaner Franco Alfano. In Deutschland hat man sein Hauptwerk „Sakuntala“, auch den Einakter „Madonna Imperia“ aufgeführt, viel genannt wurde sein Name als der des Ergänzers von Puccinis „Turandot“. Die Pariser Opéra-Comique hat eben jetzt ein Jugendwerk von ihm, „Auferstehung“ (nach Tolstoi), wieder aufgenommen. Es liegt mehr als ein Vierteljahrhundert zurück, das merkt man am Stoff, an der Handlungsführung, an den melodischen Typen und der Formprägung namentlich der beiden präludierenden Vorderakte. Aber dann kommt der Hauptakt: das Frauengefängnis mit der Wiederbegegnung der Verurteilten und des als Verschworenen fungierenden Verführers. Dieser Akt zählt jetzt noch zu den musikalisch stärksten Eindrücken der heutigen Opernbühne. Alfano schreibt einen ariosen Gesangsstil in freier melodischer Führung, einfach empfundene Kantilenen, dazwischen naturalistisch ausbrechende Rezitative, also eine ganz aus Unmittelbarkeit des Ausdrucks gerichtete Musiksprache, jenseits dessen, was man experimentell nennt. Aber er gibt der Stimme, was der Stimme ist – er lässt sie singen. Das bestimmt die Wirkung. Ihr haftet nichts irgendwie Relatives an, und sie lässt selbst den skeptischen Hörer aufhorchen und teilnehmen. Worauf beruht sie? Auf der gesangsdramatischen Kontrastierung zweier schön und lebendig geführter Stimmen. Es ist das alte Prinzip der italienischen Oper, oberhalb aller stilgesetzlichen und ästhetischen Neuerungsversuche.

Man sollte Werke dieser Art höher schätzen, als es augenblicklich Mode ist. Gerade die italienische Opernbühne bedarf immer wieder des naturhaften Gesanges, von dem sie gegenwärtig durch spekulative Reflektionen etwas abgekommen ist. Ihr jetziger Weg führt in die Literatur, nicht ins Freie. Darum ist ihr heutiges Bild unklar. Aber es kommt in der Oper nicht darauf an, Kubikwurzeln zu ziehen. Es kommt darauf an, zu singen, gut zu singen. Das ist und bleibt das einzige wahre Problem der Oper.



Empfohlene Zitierweise:
Paul Bekker: Musik (Artikel für das Pariser Tageblatt). , Paris 1934–1937, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Musik_(Artikel_f%C3%BCr_das_Pariser_Tageblatt).pdf/18&oldid=- (Version vom 1.8.2018)