Seite:Moerike Schriften 2 (1878) 305.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen

angefangen hatte, das Unhaltbare und Verkehrte ihrer Handlung einzusehen. Und so konnte denn jetzt zwischen uns kaum die Frage mehr sein, was man nun zu thun habe? Nichts Anderes, erklärte ich, als ungesäumt die ganze, reine Wahrheit sagen! – Einen Augenblick fühlte sich Lucie sichtlich bei diesem Gedanken erleichtert. Dann aber stand sie plötzlich wieder zweifelhaft, ihre Lippen zitterten und jede Miene verrieth den heftigen Kampf ihres Innern. Sie wurde ungeduldig, bitter, bei Allem was ich sagen mochte. „Ach Gott!“ rief sie zuletzt, „wohin bin ich gerathen! wer hilft aus diesem schrecklichen Gedränge! Mein theurer und einziger Freund, haben Sie Nachsicht mit einer Thörin, die sich so tief in ihrem eigenen Netz verstrickte, daß sie nun nicht mehr weiß was sie will oder soll – Sie dürfen mein Geheimniß nicht bewahren, das seh’ ich ein und konnte es denken bevor ich zu reden anfing – War’s etwa besser, ich hätte geschwiegen? Nein, nein! Gott selber hat Sie mir geschickt und mir den Mund geöffnet – nur bitte ich, beschwör’ ich Sie mit Thränen: nicht zu rasch! Machen Sie heute und morgen noch keinen Gebrauch von dem was sie hörten! Ich muß mich bedenken, ich muß mich erst fassen – die Schande, die Schmach! wie werd’ ich’s überleben –“

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen. G. J. Göschen, Stuttgart 1878, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Moerike_Schriften_2_(1878)_305.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)