Seite:Moerike Schriften 2 (1878) 301.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen

Noch war Anna erst einige Wochen begraben, so erhielt Lucie eines Abends in der Dämmerung den unerwarteten Besuch eines früheren Jugendfreundes, Paul Wilken’s, eines jungen Kaufmanns. Lange vor Richard hatte derselbe für die ältere Schwester eine stille Verehrung gehegt, doch niemals Leidenschaft, nie eine Absicht blicken lassen. Er hätte aber auch als offener Bewerber kaum seinen Zweck erreicht, da er bei aller Musterhaftigkeit seiner Person und Sitten, durch eine gewisse stolze Trockenheit sich wider Willen gerade bei Denen am meisten schadete, an deren Gunst ihm vor Andern gelegen sein mußte. Die Krankheit und den Tod Anna’s erfuhr er nur zufällig bei seiner Rückkehr von einer längeren Reise. Es war ein trauriges Wiedersehn in Luciens verödetem Stübchen. Der sonst so verschlossene, wortkarge Mensch zerfloß in Thränen neben ihr. Sie erneuerten ihre Freundschaft, und mir ist nicht ganz unwahrscheinlich, obwohl es Lucie bestritt, daß Paul die Neigung zu der Todten im Stillen schon auf die Lebende kehrte. Bei’m Abschiede nun, im Uebermaß der Schmerzen, entschlüpften ihr, sie weiß nicht wie, die lebhaften Worte: „Räche die Schwester, wenn du ein Mann bist!“ Sie dachte, wie ich gerne glauben mag, dabei an nichts Bestimmtes. Als aber sechs Tage darauf die Schreckenspost von ungefähr auch

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen. G. J. Göschen, Stuttgart 1878, Seite 301. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Moerike_Schriften_2_(1878)_301.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)