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Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen

Zweikampfs an, doch waren die Umstände zweifelhaft und man vermuthete bald dieß, bald das. Ein Zufall führte die Gerichte gleich Anfangs auf einen falschen Verdacht, von dem man nicht sobald zurücke kam. Vom wahren Thäter hatte man in monatlanger Untersuchung auch noch die leiseste Spur nicht erhalten. Allein wie erschrack, wie erstaunte die Welt, als – Lucie Gelmeroth, das unbescholtenste Mädchen, sich plötzlich vor den Richter stellte, mit der freiwilligen Erklärung: sie habe den Lieutenant getödtet, den Mörder ihrer armen Schwester, sie wolle gerne sterben, sie verlange keine Gnade! – Sie sprach mit einer Festigkeit, welche Bewunderung erregte, mit einer feierlichen Ruhe, die Etlichen verdächtig vorkommen wollte und gegen des Mädchens eigne schauderhafte Aussage zu streiten schien; wie denn die Sache überhaupt fast ganz unglaublich war. Umsonst drang man bei ihr auf eine genaue Angabe der sämmtlichen Umstände, sie blieb bei ihrem ersten einfachen Bekenntnisse. Mit hinreißender Wahrheit schilderte sie die Tugend Anna’s, ihre Leiden, ihren Tod, sie schilderte die Tücke des Verlobten, und keiner der Anwesenden erwehrte sich der tiefsten Rührung. „Nicht wahr?“ rief sie, „von solchen Dingen weiß Euer Gesetzbuch nichts? Mit Straßenräubern habt Ihr, mit Mördern und Dieben allein es zu thun! Der

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Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen. G. J. Göschen, Stuttgart 1878, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Moerike_Schriften_2_(1878)_287.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)