Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/94

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Heute jauchzt das Leben noch einmal in uns auf!

Denn das Morgen ist ungewiß.

Heute kreist noch der heiße rote Pulsschlag — das Leben, das schöne, frohe, starke Leben!


Przemysl, den 25.November 1914,
     am 18. Tag der 2. Belagerung.

Was sieht man jetzt für heitere Adjustierungen in den Straßen. Wie fern sind die Tage, wo der inspizierende Vorgesetzte eine halbe Stunde Zeit fand, seiner Empörung über eine unvorschriftsmäßig hohe Kappe, über einen unvorschriftsmäßigen Halsstreifen, freien Lauf zu lassen!

Jetzt sind die Kappen wie der Krieg sie formt. Lehmfarben von der nassen Erde der Schützengräben, flach gedrückt von der pulvergeschwärzten Faust, die sie hastig fest auf den Kopf stülpt vor dem Vorwärtsstürmen. Und durchgeschlagen von russischen Kugeln — Siegestrophäen.

Alle warme Winterwäsche in der Festung ist längst aufgekauft. Man nimmt, was man findet. Die Offiziere, die von den Werken hereinkommen, sitzen auf den galizischen Bauernwagen in karierte Damentücher gewickelt. Andere gehen durch die Straßen wie sonderbare Marmorblöcke, die Beine bekommen haben. Sie haben das weiße, schwarzmarmorierte Wachstuch, das man als Waschtischeinlage benützt, aufgekauft und sich Wettermäntel daraus machen lassen. Ein wenig steif ist die Sache, gibt ihrem Besitzer ein übermenschliches Volumen und unerklärliche Formen, — aber es dauert nicht lange und der glückliche Besitzer wird doch von seinen minder rasch entschlossenen Kameraden aufs schmerzlichste beneidet.


Empfohlene Zitierweise:
Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/94&oldid=- (Version vom 1.8.2018)