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reichen Juden, die Beamten, Ärzte, Advokaten, mit einem Wort die geistige Aristokratie. Und die haben fast alle noch vor der ersten Belagerung Przemysl verlassen.

Merkwürdigerweise sind die Riten ihres Gottesdienstes ganz dieselben wie im orthodoxen Bethaus. Nur sah man bei den Modernen zum schwarzen Anzug, Kaftan und Gebettuch den hohen Wiener Zylinder, was unkünstlerisch und störend wirkt, um so mehr, da sie während des Gottesdienstes den Hut auf dem Kopfe behalten.

Doch ich will in kurzem den Gang des Gottesdienstes festhalten.

Der Mittelpunkt des Gottesdienstes ist die „Thora“, das ist das alte Testament. Es ist auf einer gut meterhohen Pergamentrolle in winzigen hebräischen Lettern aufgezeichnet. Diese riesige Rolle, die auf zwei Stäben aufgerollt ist, befindet sich in einer roten Samthülle mit goldenen hebräischen Inschriften. An der Spitze der Rolle befindet sich ein silberner durchbrochener Aufsatz, in dem die Spitzen der beiden Stäbe stecken.

Der Gottesdienst beginnt damit, daß im Hintergrund der Synagoge, dem Hauptaltar, ein schwerer violettsamtener Vorhang zur Seite gezogen wird. Hinter diesem Vorhang erblickt man zwei weiße Flügeltüren, die sich öffnen. Der Kantor im schwarzen Anzug, in das Gebettuch, ein hellgraues Tuch mit dunkelblauen Streifen am Rande, gehüllt, entnimmt die Thora dem Altar. Er geht damit zu einem roten Samtpult, das erhöht auf einer Estrade steht. Dort rollt der Kantor mit Hilfe eines zweiten die Thora auseinander und beginnt das Stück aus dem alten Testament, das für den betreffenden Schabbes bestimmt ist, laut vorzulesen. Die Thora mutz nämlich im Verlaufe eines

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Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/84&oldid=- (Version vom 1.8.2018)