Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/197

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

In solchen Stunden wächst man rasch zusammen, und jeder erzählt seine Schicksale.

Da ist der Fabriksdirektor aus Riga, der mit Frau und drei kleinen Kindern aus der Verbannung, aus Wjatka kommt. Er erzählt, wie er schon im August, kurz nach Ausbruch des Krieges, in Untersuchung gezogen und nach Wjatka, dem Gouvernement, das an Sibirien grenzt, verbannt worden war. Die junge Frau schildert ihre Todesangst und wie sie ihrem Mann mit den drei kleinen Kindern nach Wjatka gefolgt ist. Dort hat sie tapfer mit den Kindern, von denen das kleinste kaum ein Jahr zählt, neben ihm ausgeharrt, bis ihm jetzt, im Mai, die Russen die Heimkehr nach Deutschland bewilligt.

Dann erzählt der alte, müde Mann. Wie er vor Ausbruch des Krieges für den deutschen Flottenverein gezeichnet, im August verhaftet worden sei und dann vom ersten ins zweite, vom zweiten ins dritte und vom dritten ins vierte Gefängnis gewandert, bis zu seiner endlichen Ausweisung. Er hat seine Frau, seine Tochter in Rußland gelassen.

Er geht allein von der Stätte seiner Arbeit, ein alter, gebrochener Mann.

Die Tafelrunde schweigt.

Dann kämpft der heitere alte Herr die aufsteigende Bewegung nieder: „Kinners,“ sagt er, „tut doch nicht so. Vier Gefängnisse, was ist das heutzutage! Ich war in zehn!“

Es ist kein Scherz. Er war wirklich in zehn Gefängnissen. Oft kommt es auch über ihn und würgt ihn. Aber er verliert den Boden nicht unter den Füßen. Sein goldener Humor hält ihn oben.

Das sind Männer, die ein Menschenalter lang in Rußland gearbeitet haben, an der Spitze der deutschen

Empfohlene Zitierweise:
Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/197&oldid=- (Version vom 1.8.2018)