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Kiew, im Mai 1915.

Man kommt uns hier überall sehr freundlich, ja zuvorkommend entgegen. Niemand macht uns Schwierigkeiten oder legt uns das geringste in den Weg. In einigen Tagen hoffen wir unsere Papiere in Ordnung zu haben und abreisen zu können!

Ich hatte mit meinem Mann verabredet, daß wir uns postlagernd hierher schreiben wollten, und ich hoffte zuversichtlich, endlich Nachricht von ihm zu finden. Jeden Morgen ist mein erster Weg auf die Post, und ich habe noch immer keine Zeile. Auch meine an ihn gesandten Briefe liegen noch hier. Es ist ein Glück, daß man noch immer nicht Zeit hat, zur Besinnung zu kommen. Solange man sich durch Feindesland kämpft, spannt man die letzte Fiber an und hat keine Zeit, seinen Schmerzen nachzugehen. Ich fürchte jetzt schon die Stille daheim, wo alles über mich hereinbrechen wird, was vorläufig nur im Unterbewußtsein da ist und dort unablässig am Lebensnerv nagt.

Russisch-rumänische Grenzstation, im Mai 1915.

Diese letzte Nacht in Rußland wird mir unvergeßlich bleiben! Wir beabsichtigten, direkt Kiew—Bukarest zu reisen, sind aber durch eine Verspätung gezwungen worden, uns hier eine Nacht aufzuhalten. Wir waren recht unzufrieden über diesen unangenehmen Zwischenfall, aber noch ahnten wir nicht, was für Überraschungen uns hier erwarten sollten. Wir traten also noch ziemlich gefaßt und in unser Schicksal ergeben aus dem Bahnhofsgebäude und riefen dem Träger zu: „Führen Sie uns in ein gutes Hotel!“ „Ja, ja,“ sagte der Russe, „schönes Hotel, sehr schön!“

Dann lud er auf und trabte voran.

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Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/190&oldid=- (Version vom 1.8.2018)