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und Kapellen, untereinander verbunden durch große Höfe. Diese Höfe sind teils von alten Bäumen bestanden, teils als Arkaden gedacht, haben wundervoll malerische Winkel mit alten Brunnen, Nischen mit Heiligenstatuen, Irrgänge und Schlupfwinkel. Hier lagert das wallfahrende Volk in ganzen Karawansereien und verbringt oft Tage und Nächte hier, um vor den Heiligenbildern zu opfern.

Kiew ist in erster Linie vornehme Diplomatenstadt. Nur im bessarabischen Viertel begegnet man dem Volk. Hier wimmelt es von buntgestickten Bauernkitteln. Man kennt die russischen Trachten. Die Weiber haben meist lange, dunkle Samtjacken ohne Ärmel, reich mit Goldtressen benäht. Darunter hervor schauen die weißen Hemden, am Halsausschnitt und am Oberärmel mit roten Kreuzelstichborten breit bestickt. Dazu den kurzen Rock, bauschig, mit vielen Falten und buntem Besatz und die schmale, mit Kreuzelstich gestickte Schürze. Auf Hals und Brust hängen vielreihige Ketten aus riesigen Glasperlen in allen Farben. Die meisten tragen auf dem Kopf ein Seidentuch, doch sieht man ab und zu auch junge Mädchen mit einer Krone aus künstlichen Rosen, von der rückwärts bunte Seidenbänder herabfallen, die so lang sind wie der Rock. Die Männer tragen alle den russischen Kittel mit dem Ledergürtel darüber. Dieser Kittel läßt Brust und Hals frei, und man sieht darunter das rot gestickte Hemd, das ebenso wie bei den Weibern Kreuzstichbordüren trägt.

Eine Eigentümlichkeit dieses bessarabischen Viertels ist auch der an allen Straßenecken betriebene Verkauf von Sonnenrosen- und Kürbiskernen. Jeder Mensch, der vorbeigeht, hat die Taschen voll Sonnenblumenkörnern und ißt unaufhörlich. Daher sind die ganzen Straßen von den schwarzen Schalen übersät.

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Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/189&oldid=- (Version vom 1.8.2018)