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Zeit, die unsere Seele weit und glühend gemacht und fassen uns an den Händen:

„Wir sind bereit! Gott helfe uns!" —

Lemberg, im Mai 1915.

Gestern früh um 9 Uhr sollten wir von Przemysl abreisen. Man hatte entgegenkommenderweise diesem Zug einige Wagen zweiter Klasse angehängt, und so reisten wir für Kriegszeiten überraschend gut. Allerdings rollte der Zug statt um 9 Uhr erst um 11 Uhr ab, und da wir immer wieder auf der Strecke halten mußten, erreichten wir Lemberg erst um 10 Uhr abends, eine Fahrt, die man in Friedenszeiten in vier Stunden macht.

Der Przemysler Bahnhof bot ein trauriges Bild. Der Platz davor, alle Warteräume eine Karawanserei von fliehenden Juden, die nur mehr wenige Tage Zeit zum Verlassen der Stadt haben. Die Leute bringen Tag und Nacht hier zu, mit Kind und Kegel, Sack und Pack. Die wenigen Züge sind so überfüllt, daß immer nur ein kleiner Teil der Evakuierten mitkommen kann. Sie sitzen auf den hochaufgetürmten Bündeln von Federbetten, essen einen Rest Brot mit Knoblauch, die Kinder kugeln ungewaschen durcheinander, weinen und streiten. Ein paar Weiber keifen. Andere wieder sind ganz zerbrochen, hoffnungslos, ein Bild stummer Verzweiflung.

Endlich um 11 Uhr setzt sich der Zug in Bewegung. Schwester Mania und ich atmen tief auf. In dieser Vorwärtsbewegung liegt eine namenlose Erleichterung. Nur vorwärts — vorwärts — fort — fort —! Man möchte die Arme breiten, irgendwo den Alpdruck von der Brust wälzen wie einen furchtbaren Fiebertraum! Du törichtes Herz, du! Was nützt dir zu fliehen? Solange

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Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/182&oldid=- (Version vom 1.8.2018)