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unhörbar zwischen den sonnenglühenden Felsen hin durchschlängelte, den Kopf hob und züngelte.

Die Atemzüge des in der Sonne Schlummernden gingen ruhig und gleichmäßig, das Hemd stand offen und gab die braune Brust frei.

Die Natter huscht hinein.

Und dann sticht sie nach dem Herzen.

Wie in einem Zauberspiel sich mit einem Schlag die Szene wandelt, so fährt der Schlummernde, vom Giftzahn Getroffene, jäh vom Boden auf. Die Sonne ist erloschen, Brandfackeln glühen am Himmel, tausend nackte Klingen zücken sich nach seiner Brust.

Da reckt er sich wie ein Gigant. Die kaiserblauen Augen sprühen. Mit einem letzten Blick umfängt er, was er liebt, die Heimat. Heute weiß er, daß sie sein ist! Und wie sie an ihr tasten, wird das weiche Träumerherz zu weißglühendem Stahl.

Der Deutsche langt zum Schwert, der Älpler greift zum Stutzen, der Sohn der Pußta springt aufs Pferd, der Slave lockert das Messer im Gürtel, eine heilige Phalanx, aus dem Boden gestampft.

„Das Volk steht auf, der Sturm bricht los —!"

O, du herrliche Auferstehung!


Wien, den 15. August 1914.

Noch nie habe ich Wien so schön gesehen, wie in diesen großen Tagen. Der Rausch der Begeisterung flammt durch die ganze Stadt und trägt alles mit sich fort, alt und jung, arm und reich, hoch und niedrig. Man kennt keine Rang- und Klassenunterschiede mehr, jeder ist Volk und verlangt nichts Besseres zu sein. Alle Straßen sind beflaggt. Jeden Abend drängen sich unabsehbare Menschenmengen vor der Hofburg, die dem Kaiser zujubeln wollen. Erzherzoge mischen sich in

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Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/12&oldid=- (Version vom 1.8.2018)