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Wien, den 10. August 1914.

Jahrzehntelang hat unser Volk geschlummert. Es lag längelang auf den Almen im herbduftenden Berggras und träumte mit halbgeschlossenen Augen über den Sonnenglast der rotleuchtenden Alpenrosenhänge zu den schneeglänzenden Firnen hinaus. Es kamen ab und zu die Bremsen von der Weide herüber. Aber es war viel zu herrlich, in der Sonne zu liegen, man hob nach den Lästigen kaum die Hand. Es kam ab und zu ein jäher unverhoffter Wettersturz, kaum wußte man woher. Dann zog man die Lodenjoppe über den Rücken, blieb liegen und wartete, bis die Sonne sie wieder trocknete.

Jahrzehntelang hat unser Volk geschlummert. Es lag im Sonnenbrand in den wilden, weißen Karstfelsen, neben seinen Schafen, eingewiegt von der unergründlichen blauen Schönheit des Meeres.

Es lag in der Pußta, in den Steppen Ungarns, sog den süßen Duft der blühenden Akazien über der Heide ein und sah die edlen Fohlen jagen.

Jahrzehntelang hat unser Volk geschlummert. Es lag in den blühenden Wiesen und sah auf das leise Wogen der üppigen Kornfelder, über die der Wind mit sachter Hand streichelte. —

Keiner hörte den leisen Donner, der hier und dort aufgrollte. Keiner achtete der kleinen Natter, die sich

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Ilka von Michaelsburg: Im belagerten Przemysl. C. F. Amelang, Leipzig 1915, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:MichaelsburgImBelagertenPrzemysl.pdf/11&oldid=- (Version vom 1.8.2018)