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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 9

katholischen Herrlichkeit möge dauernd im Zenith verharren.

Bereits aber konnte man die Eitelkeit eines solchen Begehrens ahnen. Dasselbe Konzil von 1215, welches einen allgemeinen Gottesfrieden heiligte, um die Kräfte der Christenheit ganz wider den Islam zu sammeln, mußte doch schon einen guten Teil dieser Kräfte hergeben, um in nächster Nähe Italiens die Waldenser und Albigenser zu bekämpfen. Mit Entsetzen erregender Wut und Grausamkeit wurde diese erste allgemeinere, von einem großen und gebildeten Volksstamm getragene Opposition niedergetreten. Um sie auf die Dauer niederzuhalten, haben Päpste und Konzile sofort die Inquisition ins Leben gerufen mit der furchtbaren und unentrinnbaren Härte ihres Gerichtsverfahrens, mit ihren dunkeln, engen Mauerzellen, darin die einen lebendig begraben, mit ihren Holzstößen, darauf die andern lebendig verbrannt wurden. Immer furchtbarer traten seit jenen Tagen die menschenfeindlichen, dämonischen Züge im Angesicht derselben K. hervor, in welcher die christlichen Völker ihre gemeinsame geistige Mutter zu verehren gewohnt und verpflichtet waren. Es ist keineswegs eine leere Phrase der Aufklärung gewesen, wenn der christlichen K. nachgesagt wurde, daß sie es zeitweilig vermocht habe, in der Menschenbrust eine jeglicher Menschlichkeit Hohn sprechende Glaubenswut, einen Fanatismus und Mordgeist zu entzünden, welcher jeder Vergleichung mit dem, was andre Kulturreligionen hierin geleistet haben, spottet. Was der alte Römerstaat in den drei ersten Jahrhunderten an der Christenheit gesündigt hat, das kommt kaum noch in Betracht gegenüber dem, was beispielsweise unter Innocenz III. und seinen Nachfolgern in Südfrankreich oder was unter Karl V. und Philipp II. in den Niederlanden geschah. Dieser zunehmende Blutgeruch war es nicht zum wenigsten, was edlere Geister der K. entfremdete, vorher noch der bei gesteigertem äußern Glanz immer greller in die Augen stechende Kontrast zwischen der Hoffart und Machtstellung des Klerus und dem nie ganz erloschenen Gedächtnis an den ursprünglichen Sinn der Stiftung Jesu. Das „arme Leben Jesu“, die „Nachfolge Jesu“, das waren untötbare Vorstellungen und Forderungen, welche den nachhaltigsten Impuls lieferten zum Verdruß über diese Völker und Fürsten bald mit List, bald mit Gewalt bändigende, alles im Himmel wie auf Erden dem eignen Vorteil opfernde Hierarchie. Schon jetzt hätten die Kaiser und Könige in ihrem Kampf gegen die Übergriffe des Papsttums viel ausrichten können, wenn sie die gärende Empörung in den Volksgeistern entfesselt oder wenigstens hätten gewähren lassen. Aber ihnen waren diese Mächte, in deren Auftreten eine neue Zeit von fern sich ankündigte, fast noch unheimlicher als den Päpsten selbst. Die Besten machen davon keine Ausnahme. Friedrich I. Barbarossa inaugurierte seine Kirchenpolitik damit, daß er den gefährlichsten und geistesmächtigsten Feind, welchen das Papsttum während des ganzen Mittelalters in Italien zu bekämpfen hatte, dem Blutgericht des Papstes auslieferte: Arnold von Brescias (1155) Schicksal war typisch. Mitten in seinem Krieg mit Gregor IX. (1227–41) gab Friedrich II. das furchtbare Gesetz „über die Verbrennung der Ketzer“, in dessen Folge die Scheiterhaufen noch in der Reformationszeit rauchten. Bei einem so widerspruchsvollen Vorgehen verstand sich eigentlich die Niederlage der Staatsmacht von selbst; hinwiederum ist auch der Kurie ihr Sieg tödlich geworden. Wie die unbeschränkte Macht in Menschenhänden einst den Cäsarenwahnsinn erzeugt hatte, so ließ sie jetzt die Päpste vielfach jene Rücksichten vergessen, welche auch die auf schwindelnder Höhe stehenden Sterblichen, vor allem aber diejenigen, welche ihre Stellung religiösen Motiven verdanken, den sittlichen Mächten schulden. Hatte früher die K. in nicht seltenen Fällen ihren Schild über das vergewaltigte Recht gehalten, war sie ein Hort der Schutzlosen und Geringen gegen den rohen Despotismus der Machthaber gewesen, hatte sie im Namen des göttlichen und menschlichen Rechts die Großen dieser Erde vor ihren Richterstuhl citiert, so lag die Sache schon im 13. und 14. Jahrh. vielfach umgekehrt. Kaiser und Könige fanden gegenüber den Anmaßungen des römischen Stuhls ihren wirksamsten, nur leider in wenigen Fällen ganz ausgenutzten Beistand in dem bürgerlichen Selbstgefühl, in dem Sinn für nationale Ehre und Selbständigkeit, in dem unbestochenen Rechtsbewußtsein ihrer Unterthanen. Seitdem vollends zuerst das Papsttum in Avignon zum Werkzeug der französischen Politik herabgesunken war, dann während des Schismas das ganze Heilsbedürfnis und Seligkeitsinteresse der Christenheit nur deshalb dazusein schien, um unter den raffiniertesten Vorwänden und erlogensten Aushängeschildern zweien Gegenpäpsten die Kassen zu füllen und die Mittel zu liefern, sich gegenseitig zu bekriegen, seitdem Reservationen, Präventionen, Devolutionen, Kommenden, Annalen und anderweitige Rechtstitel erfunden waren, um die Vergebung von Kirchenämtern zu einer unerschöpflichen Quelle von Reichtümern für den Stuhl Petri werden zu lassen, war der Glaube der Völker an diesen heiligen Stuhl nicht bloß, sondern auch an die vielen heiligen Stühle, welche von dort aus an zahlungsfähige Bewerber vergabt wurden, erschüttert. Mächtiger erhob sich von Jahr zu Jahr der Ruf nach Reformation der K. an Haupt und Gliedern. Das Papsttum selbst mußte das aufgedrungene Programm vollziehen helfen, und so kam es zu den großen Reformkonzilen von Pisa, Konstanz, Basel, um deren Frucht freilich die Völker hinterher durch die schlaue Diplomatie der Kurie, zumal des vom Episkopalismus zum Kurialismus übergelaufenen Äneas Sylvias, schmählich betrogen worden sind. Zwar ging es nicht überall so rasch wie in Deutschland, wo Kaiser Friedrich III. den Rückzug eröffnete, aber schließlich haben die reformierenden Konzile des 15. Jahrh. für alle christlichen Nationen ihre Bedeutung eingebüßt neben dem restaurierenden Konzil des 16. Jahrh., dem Trienter, dessen Beschlüsse trotz des oft längere Zeit fortgesetzten Widerstrebens einzelner Staaten zuletzt für die gesamte katholische Christenheit maßgebend geworden sind.

Fünfte Periode: bis zum Westfälischen Frieden.

Damit sind wir in die Epoche der Reformation (s. d.) übergetreten. Die Vorbedingungen zu der großen Wendung der Dinge, in deren Folge die abendländische Christenheit bis auf den heutigen Tag in zwei feindliche Heerlager geteilt erscheint, lagen nicht bloß auf dem negativen Gebiet der bittern Enttäuschung ob des Scheiterns der mit so großer Kraft und Zuversicht unternommenen Reformbestrebungen, der flammenden Empörung ob der ungescheut und offen zu Tage tretenden Entwürdigung aller Heiligtümer, die zuletzt in der Verkäuflichkeit der Gnaden gipfelte, des unabwendbaren Bankrotts der Scholastik, welche sich längst schon, statt an der Beweisbarkeit der Glaubenswahrheiten, an deren schlechthinniger Unbeweisbarkeit ergötzte, um daraus den rein supernaturalen und unbegreiflichen Charakter

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 9. Bibliographisches Institut, Leipzig 1887, Seite 753. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b9_s0753.jpg&oldid=- (Version vom 9.6.2022)