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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 5

dessen Formel lautet: Folge der Vernunft, d. h. handle so, daß die Maxime deines Wollens fähig sei, als allgemeines Gesetz zu dienen. Von seinen Nachfolgern vertauschte der realistische (Herbart) die Form des unbedingten Gebots mit jener des unbedingten Beifalls oder Mißfallens, welche die praktische Vernunft (das Gewissen, der sittliche Geschmack) über das Wollen ausspricht, dasselbe dadurch für sittlich oder unsittlich erklärend. Die idealistischen (Fichte und seine Nachfolger) verlegten das Ideal des Willens, welches Kant in dessen Gesetzmäßigkeit gefunden hatte, in die Freiheit desselben, so daß schlechthin freies und sittliches Wollen für eins gelten sollten. Schelling und Hegel haben die E. in die philosophische Betrachtung der Weltgeschichte aufgelöst. Schleiermacher hat die E. als die Vollendung der Physik und die Ethisierung des Physischen als die höchste Aufgabe sittlicher Thätigkeit bestimmt. Schopenhauers den Engländern verwandter Versuch, das Fundament der E. auf das sympathetische Gefühl des Mitleids zu gründen, ist vereinzelt geblieben. In England haben Bentham und Mill die E. des allgemeinen Wohls als Utilitarismus, in Frankreich die sozialistischen Schulen (Fourier, Saint-Simon, Cabet) als Eudämonismus anerkannt, der Positivismus Comtes und H. Spencers die selbstverleugnende Moral des Altruismus (als Gegensatz des Egoismus) ausgeführt. Das thatfeindliche „Quietiv des Willens“, welches als praktische Folge des Pessimismus durch Schopenhauer in die E. eingeführt worden ist, hat bei dessen Nachfolger Hartmann thatkräftiger Förderung des höchsten Guts an Stelle des trost- und hoffnungslosen Pessimismus, der allgemeinen Selbstvernichtung, des buddhistischen Nirwâna den Platz geräumt.

Von den Hauptwerken der verschiedenen Richtungen sind hervorzuheben: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“; Fichtes und Schleiermachers „Sittenlehre“; Herbarts „Praktische Philosophie“; Schopenhauers „Fundamente der E.“ Vgl. außerdem Chalybäus, System der spekulativen E. (Leipz. 1850, 2 Bde.); Hartenstein, Grundbegriffe der ethischen Wissenschaften (das. 1844); I. H. Fichte, System der E. (das. 1850, 2 Bde.); Ziller, Allgemeine philosophische E. (2. Aufl., Langensalza 1886); Steinthal, Allgemeine E. (Berl. 1885); Rothe, Theologische E. (2. Aufl., Wittenb. 1867–71, 5 Bde.); Dorner, System der christlichen Sittenlehre (Berl. 1885). Zur Geschichte der E. vgl. Stäudlin, Geschichte der Moralphilosophie (Hannov. 1823); Henning, Prinzipien der E. in historischer Entwickelung (Berl. 1824); Janet, Histoire de la philosophie morale et politique (Par. 1858); Strümpell, Geschichte der praktischen Philosophie der Griechen (Leipz. 1861); Ziegler, Geschichte der E. (Bonn 1881, Bd. 1); Gaß, Geschichte der christlichen E. (Berl. 1881); Jodl, Geschichte der E. in der neuern Philosophie (Stuttg. 1881, Bd. 1).

Ethikos (Äthicus), griech. Geograph aus Istrien, verfaßte in der zweiten Hälfte des 4. Jahrh. n. Chr. eine dürftige und verwirrte Weltbeschreibung, welche in lateinischer Übersetzung im Mittelalter sehr gebraucht war. Ausgaben besorgten Wuttke (Leipz. 1854) und d’Avezac (Par. 1852).

Ethikotheologie (griech.), in der Kantschen Philosophie Bezeichnung für die „auf die Sittenlehre basierte Lehre von Gott“, im Gegensatz zur Physikotheologie, welche den Glauben an Gott aus der Zweckmäßigkeit der Natur herleitet. Kant nannte in diesem Sinn das Dasein Gottes ein Postulat der praktischen Vernunft, insofern man dasselbe zwar nicht eigentlich beweisen könne, aber aus sittlichen Gründen daran festhalten müsse.

Ethisch, zur Ethik (s. d.) gehörig, darauf beruhend.

Ethmoidĕum (sc. os), das Sieb- oder Riechbein.

Ethnarch (griech.), Volksherrscher, Titel eines Landesfürsten, der mehr oder weniger die Oberhoheit eines fremden Herrschers oder Volkes anerkennt, wie der Makkabäer Simon und andre jüdische Regenten; dann auch ein orientalischer Provinzialgouverneur, Präfekt, Statthalter, z. B. des arabischen Königs Aretas zu Damaskus. Ethnarchie, Provinz, Bezirk eines Ethnarchen, Statthalterschaft.

Ethnizismus (griech.), Heidentum, Glaube an mehrere göttliche Wesen; Ethniker, Heide.

Ethnographie (griech., „Völkerbeschreibung“; auch Ethnologie, „Völkerlehre“), Völkerkunde, die Wissenschaft, welche sich mit dem Menschen als Teil der Volksgesellschaft befaßt, im Gegensatz zu der Anthropologie, welche gleichfalls den Menschen zum Studium hat, jedoch nur als naturwissenschaftliches Objekt.

Die Geschichte der E. ist noch nicht im Zusammenhang bearbeitet worden, und es kann sich hier eigentlich nur um eine Vorgeschichte handeln, da die E. erst in unsrer Zeit zu einer eigentlichen Wissenschaft erhoben wurde. Spuren der Anfänge finden wir aber bei den meisten zivilisierten Völkern. So unterschieden die alten Ägypter auf ihren Denkmälern deutlich vier Menschenrassen, die Ludu, worunter sie sich selbst verstanden, die Aamu, womit die Semiten gemeint sind, die Nahasu oder Neger und die Tamahu, helle Völker Asiens und Nordafrikas (Berber). Von großem Einfluß auf die ethnographischen Anschauungen wurde die Stammessage der Hebräer über die Schöpfung der ersten Menschen und deren Verteilung über die Erde. Bei ihnen finden wir auch (1. Mos. 10) in der merkwürdigen Völkertafel die erste Übersicht über die Ausbreitung der Menschen nach den drei Söhnen Noahs: Sem, Ham und Japhet, die sich über Westasien, Nordostafrika und Südosteuropa ausdehnten. Als älteste, um 1500 v. Chr. gesetzte Urkunde über Völker und Sprachen hat diese Tafel Anlaß zu wichtigen Forschungen über die Urverbreitung unsers Geschlechts gegeben. (Vgl. Knobel, Die Völkertafel der Genesis, Gieß. 1850.) Auffallend ist es, daß Römer und Griechen bei ihrer ausgedehnten Bekanntschaft mit der damaligen Welt so geringen Nutzen für die Völkerkunde gezogen haben, so daß sie kaum zu einer Ahnung dieser Wissenschaft gelangten. Da kein Schriftsteller des Altertums sich mit dem Studium fremder Sprachen und Litteraturen abgab, sind die Nachrichten, welche uns die Alten von fremden Völkern überlieferten, für die Zwecke moderner Wissenschaft nur schwer zu verwerten, weil ihnen die scharfe Beobachtung des eigentlichen ethnologischen Moments abgeht. Doch ist einzelnes zu verzeichnen, wie denn Ktesias mitteilt, daß es in Indien auch helle Völker gebe, im Gegensatz zu der damals gültigen Annahme, daß die Menschen nach dem Äquator zu immer dunkler würden. Vitruv gibt an, daß die blonden hellen Völker im Norden, die wollhaarigen dunkeln im Süden wohnten. Wie gering die Leistungen auf dem Gebiet der beschreibenden Völkerkunde waren, erkennt man an der Schilderung der Skythen durch Hippokrates, so daß wir über dieses Volk noch heute nicht völlig im klaren sind. Auf dem Weg des Vergleichs gemeinsame Abkunft entfernter Völker zu erkennen, versuchte Herodot, welcher die Kolchier am Kaukasus auf Grund übereinstimmender Sitten für ein Bruchstück der Ägypter erklärte. Aber mit großem Scharfsinn wurde der Einfluß der

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 5. Bibliographisches Institut, Leipzig 1886, Seite 881. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b5_s0881.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2022)