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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4

Hier ging A. W. Iffland (1759–1814) allen voran, der in der langen Reihe seiner bürgerlichen Dramen und Rührstücke ein höchst charakteristischer Sprecher der gegen die alten Gesellschaftszustände aufbäumenden, mit Rousseauschen Ideen genährten Zeitstimmung war. – Die dehnbare und schwankende Form des Romans bot natürlich noch weit mehr Gelegenheit als das Drama, die Phantasien, die Empfindungen, die heftigen und leidenschaftlichen Wünsche und Weltverbesserungsansichten der jugendlichen Generation darzulegen. Eine Anzahl der „Kraftgenies“ und der ringenden Naturen der Periode bediente sich dieser praktischen Form; selbst eine so scharf verständige und kaustisch-nüchterne Natur wie Goethes Darmstädter Freund J. H. Merck (1742–91) entwarf einige kleinere Romane und Sittenbilder („Lindor“, „Herr Oheim der jüngere“). Unter den Stürmern und Drängern sind hier zu nennen: Wilhelm Heinse (1749–1803), in seinen Romanen: „Ardinghello, oder die glückseligen Inseln“ und „Hildegard von Hohenthal“ feurige Kunstbegeisterung und schwelgerisch-üppige Sinnlichkeit verbindend; J. K. Wezel (1747–1819, „Hermann und Ulrike“), Joach. Chr. Schulz (1762–98, zahlreiche Romane), Karl Ph. Moritz (1757–93); dessen „Anton Reiser“, ein autobiographischer Roman von eigentümlichster Bedeutung, einen vollen Einblick in die Gegensätze und die Gärung der Zeit verstattet. – An die Romandichter reihen sich jene Prosaiker der Periode an, welche in schildernden und historisch darstellenden Schriften die ganze bunte Mannigfaltigkeit, das Durcheinanderwogen der Bestrebungen und Meinungen repräsentieren, und unter denen es an einer Reihe von Originalgestalten, die Träger der entschiedensten geistigen Gegensätze waren, gleichfalls nicht fehlte. Hier sei erinnert an Justus Möser (1720–94), in seinen „Osnabrückschen Geschichten“ ein geistvoller Historiker, in seinen „Patriotischen Phantasien“ der beredte Lobredner des deutschen Individualismus und einer natürlich-gesunden Grundlage aller gesellschaftlichen Zustände; an den Weltumsegler Georg Forster (1754–94), dessen „Schilderungen aus der Südsee“ und „Ansichten vom Niederrhein“ von Rousseauschem Geist erfüllt waren; an den volkstümlichen Journalisten und Poeten Chr. Daniel Schubart (1743 bis 1791), den Herausgeber der „Deutschen Chronik“.

In und aus der wilden Gärung der eigentlichen Sturm- und Drangperiode rangen sich die größten Naturen und vorzüglichsten Geister der deutschen Litteratur zu reiner und bleibender Wirkung empor. Galt dies schon von Herder, Voß u. a., so kam es in erhöhtem Maß zum Bewußtsein bei den beiden größten Dichterbegabungen der Nation, welche mit ihren Anfängen und einem guten Teil ihrer Entwickelung im Sturm und Drang wurzelten und sich nur insofern von demselben lösten, als sie die bleibenden Lebenselemente und Forderungen, welche der Periode entstammten, in ihren Dichtungen zum unverlierbaren Besitz der Nation, zur Voraussetzung der gesamten deutschen Bildung wandelten. Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), mit seinen Erstlingswerken, dem Drama „Götz von Berlichingen“ und dem Roman „Die Leiden des jungen Werther“, welche die Forderung warm natürlicher unmittelbarer Lebensdarstellung über die hochfliegendsten Hoffnungen hinaus erfüllten, sofort der gefeiertste Dichter der Sturm- und Drangperiode, erhob sich im Verlauf seiner mächtigen und einzigen Entwickelung zum größten Dichter der Nation und der letzten Jahrhunderte überhaupt. Lyriker von unvergleichlicher Tiefe und höchstem Empfindungsreichtum, als Epiker und Dramatiker Schöpfer einer ganzen Reihe von Werken des tiefsten Gehalts und der edelsten Form, die sämtlich die Macht seiner Phantasie, den Adel seiner Natur, die größte Weltkenntnis und Weltbeherrschung neben der unbeirrbaren Simplizität und beinahe unversieglichen Frische einer großen Künstlernatur erwiesen, wirkte Goethe tief auf die deutsche Entwickelung und weit über die Nation hinaus auf andre Litteraturen. Die eigentümlichste Durchdringung von objektiv angeschautem und dargestelltem Leben mit der Leidenschaft und dem subjektiven Gehalt seines Busens, die Versöhnung der ausgebreitetsten und vielseitigsten Bildung mit der ursprünglichsten Leidenschaft und Stärke, die ethische wie die künstlerische Läuterung seines Genius, für welche seine Werke Zeugnisse sind, wurden erst ganz begriffen, als die Reihe seiner größern und kleinern Werke, vor allen die dramatischen Dichtungen: „Egmont“, „Iphigenia“, „Torquato Tasso“, die epische Dichtung „Hermann und Dorothea“, die Romane: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und „Die Wahlverwandtschaften“, die klassischen Spätlingswerke: „Aus meinem Leben. Wahrheit und Dichtung“ und „Westöstlicher Diwan“, endlich die über Goethes ganzes Leben sich erstreckende Dichtung „Faust“ (das weltumfassendste und tiefste poetische Werk der neuhochdeutschen Litteratur überhaupt), die Fülle seiner Lieder und übrigen lyrischen Gedichte, die ganze Summe seiner schaffenden, forschenden und bildenden Thätigkeit, mit der er gestrebt hatte, sich ein Ganzes zu erbauen, überblicken ließ.

Einer raschern Wirkung erfreute sich Friedrich Schiller (1759–1805), der dem Freiheits- und Humanitätsdrang des 18. Jahrh. den mächtigsten und poetisch schwungvollsten Ausdruck in seinen Dichtungen gab. Mit den Dramen: „Die Räuber“, „Fiesco“, „Kabale und Liebe“ und „Don Karlos“ beginnend, deren jedes eine Sehnsucht und Forderung der Zeit gewaltig fortreißend aussprach und lebendig verkörperte, durch seine historischen Schriften („Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande“, „Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs“) bahnbrechend für eine gedankenreiche, farbenvolle und fesselnde Prosadarstellung, leitete Schiller mit seinen philosophisch-kritischen Abhandlungen (namentlich mit den „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“) die Versöhnung zwischen den Anschauungen der Gärungsepoche und der strengen Ethik der Kantschen Philosophie ein und dokumentierte jenen einzigen subjektiven Idealismus, jene wunderbare Selbstläuterung, jene Durchbildung zur künstlerischen Vollendung in seinem Sinn, welche ihn mit Goethe in geistigen Einklang setzte und alle Gedichte seiner zweiten Periode sowie die Reihe seiner Meisterdramen („Wallenstein“, „Maria Stuart“, „Die Jungfrau von Orleans“, „Die Braut von Messina“, „Wilhelm Tell“, den Torso des „Demetrius“) durchdringt und verklärt.

Neben den großen Gestalten Goethes und Schillers erschienen die Zeitgenossen kleiner, als sie waren. Das Publikum freilich ließ sich das Recht nicht nehmen, auf seine eigne Weise neben den Heroen Größen zu schaffen und anzuerkennen. Bald bewunderte es die geistvolle und phantasiereiche, aber fragmentarische und schon frühzeitig manieristische Weise von Jean Paul Friedrich Richter (Jean Paul, 1763–1825), dessen beste Romane, wie „Hesperus“, „Titan“, „Siebenkäs“, „Die Flegeljahre“, es einigermaßen rechtfertigten, wenn man ihn als den klassischen Humoristen bezeichnete; bald hielt es sich an Poeten, welche auf einem kleinen, beschränkten Gebiet Vorzügliches

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4. Bibliographisches Institut, Leipzig 1886, Seite 750. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b4_s0750.jpg&oldid=- (Version vom 7.3.2023)