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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4

des sonst untergegangenen Gotischen. Aber das mutige Beispiel des arianischen Bischofs fand keine entsprechende Nachahmung, und nur das äußerste Bedürfnis drang den fränkischen, irischen und angelsächsischen Bekehrern im eigentlichen Deutschland nach und nach Übersetzungen einzelner Predigten, Glaubens- und Beichtformeln ab oder reizte zu eigenen Abfassungen in der im ganzen doch für barbarisch erachteten Sprache. In der Hauptsache war es „dürftige Prosa“, was auf diesem Weg entstand. Dem Reichtum und der eigentlichen Macht der deutschen Sprache wichen die Geistlichen eher aus, als daß sie ihn suchten. Da sie die Lust des Volkes an den alten Liedern, welche in dieser Zeit der wandernde Spielmann noch von Herd zu Herd trug, als verderblich erachteten, in der Erinnerung an die kriegerischen Sagenhelden nicht mit Unrecht Rückfall ins Heidentum witterten, da sie sich lange in einem völligen Gegensatz zu der Vorstellungs- und Sinnesweise des Volkes befanden und das Gefühl dieses Gegensatzes in den Klosterschulen auch bei der heranwachsenden Generation genährt ward, so währte es geraume Zeit, bis ein Einklang zwischen der eigentlichen Volksnatur und Volkssitte und der neuen kirchlichen Ordnung eintrat. Spärlich waren unter solchen Umständen auch die poetischen Versuche, welche aus der neuen christlichen Bildung und aus den Reihen der Geistlichkeit hervorgingen. Einige Gesänge aus dem 9. Jahrh. („Bittgesang an den heil. Petrus“, ein „Loblied auf den heil. Georg“, eine Bearbeitung des 138. Psalms), das „Wessobrunner Gebet“ und das vom Jüngsten Tag handelnde Gedicht „Muspilli“, welches mit der heidnischen Vorstellung vom großen Weltbrand durchsetzt ist, zeigen die Dürftigkeit der Vorstellungen, die Ungelenkheit der Form. In poetischer Hinsicht wichtiger sind die beiden christlichen Hauptdichtungen der karolingischen Zeit: der in altsächsischer Mundart nach dem Evangelium des Matthäus und der Tatianischen Evangelienharmonie verfaßte, kräftig-einfache „Heliand“ (Heiland), den ein niederdeutscher Dichter in den Tagen Ludwigs des Frommen (vielleicht im Auftrag desselben) schrieb, und der im direkten Anschluß an die Weise der allitterierenden Heldengesänge die tiefere Teilnahme des neubekehrten Sachsenvolkes an dem mächtigen Sohn Gottes als dem Völkerherrn und Landeswart zu wecken suchte, und die hochdeutsche „Evangelienharmonie“ des Weißenburger Mönches Otfried vom Ende des 9. Jahrh., in welcher der Dichter den Franken ein christliches Heldengedicht zu schaffen beabsichtigte. Otfried war der erste, welcher an die Stelle der Stabreimform den Reim setzte und regelmäßigen Strophenbau einführte, womit er für einen Teil der folgenden Dichter vorbildlich wurde. Ungefähr derselben Zeit gehört das von einem Geistlichen verfaßte weltliche „Ludwigslied“ an, welches einen Sieg Ludwigs III. über die Normannen bei Saucourt (881) feiert. In der Weise dieses auf ein Zeitereignis bezüglichen Liedes haben nach zuverlässigen Zeugnissen noch andre Lieder existiert, die namentlich während des 10. und im Übergang zum 11. Jahrh. zahlreicher wurden. Auch gemischt lateinische und deutsche Gedichte scheinen zu erweisen, daß zwischen der Spielmannsdichtung und der Poesie der Kleriker sich allmählich eine Wechselwirkung herstellte. In der lateinischen Klosterlitteratur dieses Zeitraums entwickelten sich überdies mancherlei Keime, welche später in der deutschen Litteratur aufgehen sollten, und so muß der ältesten Anfänge der Weihnachts- und Passionsspiele in kleinen lateinischen Dramen sowie der lateinischen Stücke der Gandersheimer Nonne Hroswitha (Roswitha) vom Ende des 10. Jahrh. gedacht werden, mit denen sie den in den Klöstern vielgelesenen Terenz verdrängen wollte.

Die Litteraturdenkmäler, auch im 10. Jahrh. noch vereinzelt, werden im 11. etwas zahlreicher; es treten bestimmtere Autorennamen, man kann noch nicht sagen erkennbare Dichterpersönlichkeiten, hervor. In der Zeit der sächsischen und fränkischen Kaiser (von der Thronbesteigung Heinrichs I., 919, bis zum Tod Heinrichs III., 1056) bestanden im wesentlichen die großen Formen der karolingischen Monarchie, des „theokratischen Kaisertums“ fort; die emporstrebende streng kirchliche Auffassung samt der ganzen Vorstellungswelt der Geistlichkeit drang auch in die Volksmassen ein, obwohl mit Spott und Entrüstung bezeugt wird, daß die „Bauern“ fortfuhren, von Siegfried und Dietrich von Bern zu singen. Die Legendenpoesie, mit den Pseudoevangelien, mit heimischen und fremden Wundergeschichten genährt, trat in den Vordergrund, fand inzwischen erst im 12. Jahrh. künstlerische Gestaltung. Dem 11. Jahrh. gehören die deutsche Psalmbearbeitung des St. Gallener Mönches Notker Labeo (gest. 1022), die Auslegung des „Hohenliedes“ des Fuldaer Mönches Williram (gest. 1085 als Abt des Klosters Ebersberg), die biblischen Gedichte des Scholastikus Ezzo, auch das vielbesprochene kosmographische Gedicht „Merigarto“ an. Im Übergang zum 12. Jahrh. verfaßte eine Frau Ava (gest. 1127 zu Göttweih) ein größeres Gedicht: „Vom Leben Jesu und vom Antichrist“, ihr angeblicher Sohn Heinrich ein Gedicht „Von des Todes Gehügede“. Die meisten Gedichte und poetischen Bruchstücke dieses Zeitraums erscheinen kunstloser, verwilderter; in manchen wechselt Poesie und Prosa. Die eigentlich althochdeutsche Sprache, von der die ganze Litteraturperiode den Namen der althochdeutschen führt, klingt mit Notker aus. Auch die altniederdeutsche (altsächsische) Sprache bewahrte höchstens bis zu diesem Zeitraum die alte Kraft und Fülle; die Zeugnisse eines litterarischen Lebens blieben ganz vereinzelt, der „Heliand“ fand keine Nachahmung.

II. Zeitraum.
Zeit der Kreuzzüge. Aufschwung der Dichtung. Beginn der ritterlich-höfischen Poesie.

Im Wendepunkt des 11. zum 12. Jahrh. beginnt eine neue, hochinteressante und reiche Entwickelung der deutschen Litteratur, im wesentlichen an das Emporkommen und die weitere Durchbildung der als Mittelhochdeutsch bezeichneten Schriftsprache gebunden. Den stärksten Anteil an dem raschen Aufblühen einer großen geistlichen Litteratur in deutscher Sprache und einer ihr kühn zur Seite tretenden ritterlichen Dichtung hatten die Eindrücke der bewegten Zeit. Der unter Heinrich IV. beginnende Riesenkampf zwischen der weltlichen Gewalt und den Weltbeherrschungsansprüchen der Hierarchie, die gewaltigen, bunten und wechselnden Eindrücke der Kreuzzüge, die tausendfach neuen Lebensverhältnisse selbst, die in Deutschland aus dem Emporkommen der Landesfürsten, dem gesamten Lehnssystem und Städtewesen erwuchsen, die Aufwühlung der Volksseele bis in ihre Tiefen und die Erweiterung des Gesichtskreises förderten gleichmäßig das Gedeihen der Litteratur, welche sich fast ausschließlich in den Formen der Poesie darstellt und selbst in Weltbeschreibungen, Lebensgeschichten und historischen Werken die Übermacht einer gesteigerten Phantasie erkennen läßt. Das tiefe innige Glaubensleben, das sich in

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 4. Bibliographisches Institut, Leipzig 1886, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b4_s0735.jpg&oldid=- (Version vom 6.3.2023)