Seite:Meyers b2 s0210.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 2

und die Matthäuspassion, die eine 1724, die andre 1729 zum erstenmal aufgeführt. Die schon von alters her seitens der Kirche veranstaltete musikalisch-dramatische Darstellung der Leidensgeschichte Christi erscheint in diesen Werken zur höchsten formellen Vollendung, zur höchsten musikalischen Schönheit und Kraft des Ausdrucks erhoben. In einer aus epischen, dramatischen und lyrischen Elementen gemischten Form wird uns die Leidensgeschichte plastisch und eindringlich vor Augen geführt. Das erste (epische) Element haben wir in dem recitierenden Evangelisten vor uns, das dramatische in den einfallenden Worten der andern Personen, namentlich Christi selbst, sowie in den lebendigen Chören des Volks, das lyrische in den betrachtenden Arien und Chören, während der der gesamten Darstellung gegenübergestellte Choral wiederum die unmittelbare Beziehung des Werks zum Gottesdienst bezeichnet und die Teilnahme der Gemeinde andeutet. Ein ähnliches Werk, nur im Gegensatz zu jenen mehr heitern Charakters, ist das liebliche Weihnachtsoratorium, 1734 entstanden. In allen diesen Werken zeigt sich vor allem wieder jene großartige polyphone Kunst, die nun bei den ernsten Worten und ausdrucksvollen Themata noch höhere Wirkungen erzielt; dann aber tritt hier jene wunderbare, tiefsinnige Versenkung in den Sinn der Textesworte hervor, welche den seiner Kirche treu ergebenen Mann begeisterten, wie seine höchste Kunst, so seine tiefste Empfindung ihnen darzubringen. Die kontrapunktische Kunst tritt außer in den großen Chören besonders auch in der Behandlung der Choräle hervor, in welchen (sowie in den übrigen Stücken) selbst der häufig schwülstige und geschmacklose Text, wie ihn die Leipziger Poeten jener Zeit (Picander u. a.) ihm lieferten, die Kraft seiner Begeisterung nicht zu hemmen vermochte. Neben diesen großen, zu dem protestantischen Gottesdienst in unmittelbarer oder mittelbarer Beziehung stehenden Werken erscheinen in gleicher Höhe und Vollendung die Bearbeitungen altlateinischer kirchlicher Texte, vor allen die Messen und das Magnifikat. Unter ihnen und unter allen Werken Bachs nimmt die große Messe in H moll (1733) den ersten Platz ein. Ohne hier irgend an eine bestimmte Art der Benutzung beim Gottesdienst denken zu können, hat B., wie früher in die Worte der Bibel, so hier in die altüberlieferten Worte des Glaubensbekenntnisses und die übrigen den Text der Messe bildenden Worte sich gläubig versenkt und sie mit einem Reichtum der Empfindung und mit einer Kraft des Ausdrucks zur Darstellung gebracht, die uns auch heute noch, im Gewand der strengen polyphonen Kunst, tief ergreift und mächtig erhebt. Die Chöre in diesem Werk sind vielleicht das Großartigste, was auf dem Gebiet kirchlicher Tonkunst jemals geschaffen worden ist; die Einzelgesänge, kunstvoll gearbeitet und feinsinnig deklamiert, können jedoch den Stil und Geschmack ihrer Zeit weniger verleugnen; auch läßt sich nicht in Abrede stellen, daß B., seinem vorwiegend dem Instrumentalen zugewandten Naturell folgend, die Bedingungen zur wirksamen Verwendung der menschlichen Stimme hier nicht selten außer acht gelassen hat, wie er überhaupt als Vokalkomponist hinter den Italienern und auch hinter seinen in der italienischen Schule gebildeten Landsleuten, vor allen Händel (s. d.), zurückstehen muß. Unter diesen Umständen erwiesen sich die ihm als Thomaskantor in Leipzig zur Verfügung stehenden bescheidenen Mittel zur Darstellung seiner größern Werke vollends ungenügend; erst der Zeit nach Mendelssohn war es vorbehalten, ihnen durch Aufwendung der reichsten vokalen und orchestralen Mittel völlig gerecht zu werden.

Mit nicht geringerm Erfolg wirkte neuerdings zur Verbreitung der Kenntnis Bachs die 1850 in Leipzig zusammengetretene Bach-Gesellschaft, gegründet von Härtel, K. F. Becker, M. Hauptmann, O. Jahn und R. Schumann; dieselbe stellte sich zur Aufgabe, durch Herstellung einer möglichst vollständigen und korrekten Ausgabe von Bachs sämtlichen Werken dem deutschen Meister das schönste und ehrenvollste Denkmal zu setzen. Von dieser Ausgabe waren 1884 dreißig Bände erschienen. Mitglied der Gesellschaft ist jeder, der einen jährlichen Beitrag von 15 Mk. zeichnet, wofür er jedes Jahr ein Exemplar der im Lauf desselben veröffentlichten Kompositionen empfängt. Einzelne Klavier- und Orgelwerke Bachs erschienen in mehreren Ausgaben. Vollständigere Sammlungen der Klavierwerke veranstalteten zuerst Peters in Leipzig (durch Czerny und Griepenkerl), Haslinger in Wien, später Holle in Wolfenbüttel (durch Chrysander). Die vierstimmigen Choralgesänge wurden herausgegeben von Bachs Sohn Karl Philipp Emanuel (2. Ausg., Berl. u. Leipz. 1784–87, 4 Hefte, 370 Choräle enthaltend, größtenteils Bachs Kirchenkompositionen entnommen; neuer Abdruck 1832), zuletzt von Becker (das. 1843). Um die Herausgabe und Bearbeitung einzelner Werke haben sich Marx und in neuerer Zeit Robert Franz, H. v. Bülow, Fr. Kroll, A. Thomas u. a. Verdienste erworben. Durch Mendelssohns Vermittelung wurde dem großen Musiker 1842 zu Leipzig ein bescheidenes Monument (von Knaur ausgeführt) errichtet; ein zweites, größeres Denkmal (Statue, von Donndorf modelliert) wurde ihm in Eisenach gesetzt und 28. Sept. 1884 feierlich enthüllt. Vgl. Forkel, Über J. S. Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke (Leipz. 1803, neue Ausg., das. 1855); Hilgenfeld, Bachs Leben, Wirken und Werke (das. 1850); Bitter, Johann Sebast. B. (2. Aufl., Berl. 1880–81, 4 Bde.); Spitta, Joh. Sebast. B. (Leipz. 1873–80, 2 Bde.); Mosewius, Joh. Sebast. B. in seinen Kirchenkantaten (Berl. 1845); Derselbe, J. S. Bachs Matthäuspassion (das. 1852).

Eine große Anzahl bedeutender Musiker ging aus Bachs Schule hervor; unter ihnen nehmen seine Söhne einen hervorragenden Platz ein. Unter Bachs elf Söhnen haben sich die folgenden vier in der Geschichte der Musik oder wenigstens im Musikleben ihrer Zeit eine bedeutende Stellung erworben.

4) Wilhelm Friedemann, der älteste und begabteste, aber auch unglücklichste der Söhne Bachs, geb. 1710 zu Weimar, brachte es durch den Unterricht seines Vaters schon in der Jugend so weit, daß selbst der nicht leicht befriedigte Meister das Höchste von ihm hoffte. Auf dem Klavier wie auf der Orgel und im Kontrapunkt errang er früh eine große Meisterschaft und machte auch auf der Violine bedeutende Fortschritte. Seit 1722 besuchte er in Leipzig die Thomasschule, hörte dann Vorlesungen an der Universität, ward 1733 als Organist an die Sophienkirche nach Dresden und 1747 als Musikdirektor und Organist an die Marienkirche nach Halle berufen, daher er auch den Namen des Halleschen B. führt. Im J. 1764 gab er letztere Stelle auf und ging nach Leipzig zurück. Von dieser Zeit an lebte er unstet bald hier, bald da und suchte durch Konzerte, Unterricht und Kompositionen sich seinen Unterhalt zu erwerben. Am längsten hielt er sich in Braunschweig, dann in Göttingen und endlich in Berlin auf, wo er 1. Juli 1784 in kümmerlichen Verhältnissen starb. Sein unordentliches Wesen, sein Künstlerstolz, seine unglaubliche Zerstreutheit, namentlich seine Trunksucht hatten

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 2. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b2_s0210.jpg&oldid=- (Version vom 16.4.2022)