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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 1

und veröffentlichte 1847 den 2. Teil der oben erwähnten Schrift zu Hamburg. Gleichzeitig gab er im Sinn der ständischen Opposition Österreichs anonym die wichtige Sammlung „Historische Aktenstücke zur Geschichte des Ständewesens in Österreich“ (Leipz. 1846, 6 Hefte) heraus. Anfang April 1848 von den Ständen Niederösterreichs, wo er sich angekauft, zum Vorparlament nach Frankfurt gesendet, wurde er in den Fünfzigerausschuß gewählt und wirkte als Vorstand des Zentralkomitees für das Zustandekommen der Wahlen zur Nationalversammlung, in welche er selbst als Abgeordneter von Wiener-Neustadt eintrat. Zum Vizepräsidenten derselben gewählt, war er zugleich Mitglied des Verfassungs- u. des Zentralwahlausschusses und stand an der Spitze der Deputation, welche dem Erzherzog Johann seine Wahl zum Reichsverweser anzeigte. Anfang August 1848 zum Reichsgesandten in London ernannt, vertrat er in den Unterhandlungen über die österreichisch-italienische und die schleswig-holsteinische Frage kräftig Deutschlands Interesse, kehrte aber, als die österreichisch-deutsche Frage in Frankfurt in den Vordergrund trat, auf den Wunsch des Reichsministeriums zurück und sprach sich für das Programm von Kremsier aus. Nach Schmerlings Rücktritt gab auch A. seine Entlassung. Ende Januar 1849 kam er wieder nach Frankfurt, von wo er Anfang März nach Wien zurückkehrte; er starb 25. Nov. 1858 daselbst. Seine politischen Ansichten hat er in der Schrift „Zentralisation und Dezentralisation in Österreich“ (anonym, Wien 1850) niedergelegt.

Andrīas Scheuchzēri (Homo diluvii testis, Sintflutmensch), im Tertiärschiefer von Öningen aufgefundenes und 1726 von Scheuchzer als „Sündflutmensch“ beschriebenes Skelett eines Lurchs von nahezu 1 m Länge (s. Tafel „Tertiärformation II“). Die richtige Deutung gab Cuvier, und van der Hoeven stellte das Tier in systematischer Beziehung in unmittelbare Nähe des in Nordamerika und Japan noch lebenden Cryptobranchus (Riesensalamander).

Andrieu (spr. angdriöh), Bertrand, Stempelschneider und Medailleur an der Pariser Münze, geb. 1761 zu Bordeaux, arbeitete in Paris und verfertigte daselbst während eines Zeitraums von 40 Jahren die zum Andenken der wichtigsten Zeitereignisse geprägten Medaillen. Er starb 1822.

Andrieux (spr. angdriöh), 1) François Guillaume Jean Stanislas, franz. Gelehrter und Dichter, geb. 6. Mai 1759 zu Straßburg, war beim Ausbruch der Revolution Advokat in Paris, schloß sich derselben mit Eifer an, wurde 1796 Mitglied des Kassationshofs, 1798 in den Rat der Fünfhundert gewählt, nach dem 18. Brumaire zum Mitglied des Tribunats ernannt, jedoch schon 1802 wegen seiner Opposition entlassen. Einen Antrag Fouchés, sich bei der Zensur zu beteiligen, lehnte er ab, ward 1804 Bibliothekar Joseph Bonapartes und gleichzeitig des Senats und erhielt dann die Professur der schönen Wissenschaften an der polytechnischen Schule, die er nach der Restauration (1814) mit einem Lehrstuhl am Collège de France vertauschte. Im J. 1816 wurde er Mitglied der Akademie und 1829 deren beständiger Sekretär. Er starb 10. Mai 1833. A. ist ein Kind des 18. Jahrh.: sein Hauptbestreben ist, geistreich und witzig zu sein; Gefühl und Leidenschaft scheinen ihm gänzlich zu fehlen. Auch seine ästhetischen Ansichten gehören der alten Zeit an; Shakespeare tadelt er als kunstlos und übertrieben, die deutsche Litteratur verabscheute er ebenso wie die romantische Schule. Seine eignen Komödien zeichnen sich durch leichten Versbau, gut ausgedachte Situationen und manche sinnreiche Einfälle aus. Die besten sind: „Les étourdis, ou le mort supposé“ (1788) und „La comédienne“ (1816). Auch eine Tragödie: „Junius Brutus“, hat A. verfaßt, die nach der Julirevolution zur Aufführung kam, sowie zahlreiche leichte Poesien: Fabeln, Erzählungen, Romanzen, Episteln, die sich durch Urbanität auszeichnen, und von denen die bemerkenswertesten sind: „Le meunier de Sans-Souci“, „La promenade de Fénelon“ und „Le procès du sénat de Capoue“. A. gab selbst seine Werke heraus (1818–23, 4 Bde.); eine Auswahl erschien 1878.

2) Louis, franz. Politiker, geb. 20. Juli 1840 zu Trévoux (Ain), studierte in Paris die Rechte und ließ sich in Lyon als Advokat nieder, wo er in vielen politischen Prozessen plaidierte, eine freie Rechtsschule gründete und einer der Vorkämpfer der liberalen Partei gegen das Kaisertum war; wegen Beleidigung des Kaisers ward er 1870 zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Nach dem 4. Sept. 1870 wurde er zum Prokurator der Republik in Lyon ernannt und hatte zwischen der revolutionären und reaktionären Partei eine schwere Stellung; trotzdem erfüllte er nach beiden Seiten hin mutig seine Pflichten. Nach Thiers’ Abdankung 1873 nahm er seine Entlassung und bekämpfte mit Entschiedenheit den reaktionären Präfekten von Lyon, Ducros. Im J. 1876 ward er in die Deputiertenkammer gewählt, in welcher er sich der Republikanischen Union anschloß und für die Einigkeit der liberalen Parteien wirkte. Er war 1879 Berichterstatter über den Gesetzentwurf, betreffend die teilweise Amnestie, und wurde darauf zum Polizeipräfekten von Paris ernannt, in welcher Stellung er aber von den Radikalen heftig angefeindet wurde. Er erhielt daher im Juli 1881 seine Entlassung und ward 1882 zum Botschafter in Madrid ernannt, aber als Gegner der Gambettisten bald wieder abberufen und bekämpfte seitdem diese aufs heftigste.

Andro, Insel, s. Andros.

Andröcēum (griech.), in der Blüte die Gesamtheit der Blätter, welche sich zu Staubgefäßen, den männlichen Organen, ausbilden, im Gegensatz zum Gynäceum, welches den ganzen weiblichen Teil der Blüte bedeutet; s. Staubgefäß.

Androdamant (Androdamas), nach Plinius u. a. ein Mineral von glänzend silberweißer Farbe und würfeliger Kristallform, das in Ägypten gefunden und zu Amuletten, Ringen und Halsbändern verarbeitet wurde. Scheuchzer erkennt im A. den Kalkspat, andre halten ihn für Adular, Arsenkies etc. Die alten Magier schrieben dem A. die Kraft zu, den Zorn der Männer zu bändigen; daher der Name.

Androgynīe (griech., „Mannweibheit“), die Vereinigung der männlichen und weiblichen Geschlechtsteile in Einem Individuum, unterscheidet sich vom eigentlichen Hermaphroditismus (s. d.) dadurch, daß sie die bei diesem stattfindende Anwendbarkeit der beiderlei Geschlechtsglieder zur Selbstbefruchtung ausschließt. Ein hermaphroditisches Tier befruchtet sich selbst, z. B. der Bandwurm; ein androgynisches kann für sich allein den Akt der Begattung nicht vollziehen, es gehören dazu wenigstens zwei Individuen. So können zwei Gartenschnecken (Helix) oder zwei Regenwürmer (Lumbricus) sich gegenseitig begatten. Bisweilen begatten sich drei und mehrere androgynische Individuen auf einmal, so daß das eine dem andern als Weibchen, dem dritten als Männchen dient etc. Bei den Wirbeltieren kommt weder A. noch Hermaphroditismus vor; bei den niedern Klassen der Wirbellosen (Mollusken, Gliederwürmer, Entozoen) ist dagegen die A. ziemlich verbreitet.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 1. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885, Seite 556. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b1_s0556.jpg&oldid=- (Version vom 23.5.2022)