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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 1

mit einer gemischten Brigade zur Unterstützung des Walis detachiert. Infolge der Desertion des größten Teils der Infanterie und Artillerie des Walis mußte General Burrows vor den 12,000 Mann und 36 Geschützen Ejubs zurückweichen. Auf halbem Weg zwischen Girischk und Kandahar kam es östlich Kuschk i Nakhud 27. Juli zum Gefecht; die englische Brigade, fast aufgerieben, wurde auf Kandahar zurückgeworfen. Ejub traf 6. Aug. vor dieser Stadt ein. General Primrose verfügte über nicht ganz 5000 Mann mit 18 Geschützen. Infolge der durch Ejub unterbrochenen Verbindung mit Tschaman und Quetta war auf Unterstützung von dorther nicht zu rechnen. Man detachierte den General Roberts von Kabul auf Kandahar. Am 7. Aug. brach er mit rund 10,000 Kombattanten auf; 8000 Mann Lagertroß, 2000 Pferde, 750 Artilleriemaultiere und 1225 Transporttiere mußte er mit sich führen. Bei den Terrain-, Bevölkerungs- und Ernährungsverhältnissen des Durchmarschgebiets war das Unternehmen äußerst schwierig, zumal schon den gegebenen Versprechungen gemäß Kabul geräumt werden mußte. Schon 10. Aug. verließen die letzten englischen Truppen letzteres und zogen auf Gandamak ab. General Roberts verlor somit jede Basis; nur in der Erreichung seines Ziels und einer glücklichen Entscheidung durch die Waffen konnte ein Erfolg erzielt werden. Ejub hatte bereits 10. Aug. das mit 4630 Mann besetzte Kandahar von allen Seiten eingeschlossen. General Roberts langte 23. Aug. in Kelat i Ghilzai an, nahm die dort befindliche englische Besatzung von 1200 Mann mit und setzte seinen Marsch fort. Ejub hob auf die bezügliche Nachricht hin schon 23. Aug. die Belagerung auf und nahm mit seiner jetzt 20,000 Mann betragenden Armee etwa 15 km nordwestwärts der Stadt eine Stellung. Schon 31. Aug. war das englische Entsatzheer in Kandahar eingezogen. Am 1. Sept. griff General Roberts Ejub in der Stellung am Baba Wali an und schlug ihn vollständig. Ejub flüchtete über Farah nach Herat, wo er mit den Trümmern seiner Getreuen (die irregulären Truppen hatten sich zerstreut, die Kabuler Regimenter sich nach Kabul geflüchtet) Ende September anlangte. Nach diesem Sieg konnte das Kabinett Gladstone an der beschlossenen Räumung Afghanistans festhalten. Am 12. Sept. war von den Truppen des Generals Stewart der Chaiberpaß passiert; auch General Roberts trat schon wenige Tage nach seinem Sieg den Rückmarsch an. Nur 13,000 Mann unter dem mittlerweile von Tschaman angekommenen General Phayre blieben bei Kandahar und Tschaman.

Abd ur Rahmân hatte seine Herrschaft in Kabul und Nordafghanistan wesentlich befestigt: Mohammed Dschan, selbst die Ghilzai hatten sich unterworfen; im südlichen A. fingen die Verhältnisse sich zu konsolidieren an. An Stelle des nach Indien gegangenen Walis Schir Ali wurde der 26jährige Mohammed Hassim Statthalter von Kandahar. Die Engländer traten 17. April 1881 auch von hier aus ihren Rückzug an. Somit war der Emir thatsächlich Herr von Nord- und Südafghanistan, nur Herat und somit der Westen war ihm noch nicht unterthan. Hier hatte Ejub trotz Geldverlegenheiten mit großer Energie seine Streitmacht neu organisiert und war mit seinem wachsenden Ansehen wieder zu einer beständigen Drohung für Abd ur Rahmân, ja selbst für England geworden. Hier herrschten über die für Südafghanistan einzuschlagende Politik die verschiedenartigsten Ansichten; die Räumungspolitik Gladstones hatte indes die Oberhand behalten, nur am Kodschakpaß war die englische Nachhut stehen geblieben. Mohammed Hassim war keineswegs populär, und sein Ansehen stand je weiter nach Westen, desto mehr dem Ejubs nach. Während Abd ur Rahmân mit der Befestigung seiner Stellung und Organisation seines Heers beschäftigt war, zog Ejub gegen Kandahar. Schon Anfang Juni war es am Hilmend zwischen Abteilungen Hassims und den Durani, Anhängern Ejubs, zu Kämpfen gekommen. Schon 15. Juli erschien letzterer bei Girischk, passierte den Hilmend, schlug Hassim 26. Juli bei Karez i Alta und besetzte am folgenden Tag mit seiner Vorhut Kandahar. Erst jetzt sah sich Abd ur Rahmân, dessen Sache man selbst in England schon für verloren ansah, veranlaßt, auch seinerseits Gegenmaßregeln zu treffen. Am 1. Sept. traf er mit Verstärkungen bei Kelat i Ghilzai ein, während Ejub bis dahin in und bei Kandahar stehen geblieben war. Jetzt bezog er unmittelbar östlich davon eine Stellung. Abd ur Rahmân konnte sich nicht zum Angriff entschließen. Ejub, für seine Rückzugslinie nach Herat besorgt, gab jene Stellung auf und nahm eine andre südwestlich der Stadt. Hier, bei den Ruinen des alten Kandahar, kam es 22. Sept. zur Schlacht, in welcher Ejub hauptsächlich infolge Verräterei seiner Truppen unterlag. Bevor jedoch Abd ur Rahmân seine Absicht, auf Herat zu marschieren, ins Werk setzen konnte, war das Schicksal dieser Stadt schon entschieden. Unter Abd ul Kudus Chan und Ischak Chan waren nämlich dem Emir ergebene Truppen aus dem afghanischen Turkistan bereits Ende September auf dem Marsch gegen Herat. Der hier zurückgebliebene Gouverneur Inniab rückte ihnen entgegen, wurde aber 2. Okt. bei Schaflan geschlagen. Am 4. Okt. war Herat in der Gewalt der Sieger. Ejub Chan, durch dies Mißgeschick vom gefeiertsten Prätendenten zu einem anhangslosen Rebellen geworden, flüchtete, jeder Hilfsmittel beraubt, auf persisches Gebiet. Auch in Herat wurde jetzt Abd ur Rahmân als Emir proklamiert: er wurde Herr des ungeteilten A. England, das 171/2 Mill. Pfd. Sterl. in der dreijährigen Feldzugsperiode geopfert hatte, konnte nunmehr seine Truppen auch aus Tschaman, wo sie bis dahin noch Wache gehalten hatten, durch den Kodschakpaß und das Pischinthal nach Indien zurückziehen. Quetta ist die Kandahar zunächst liegende englische Garnisonstadt.

Die augenblickliche Lage (1884) läßt sich dahin zusammenfassen: Abd ur Rahmân hat sich als Beherrscher Afghanistans zu erhalten gewußt, wenn auch um den Gouverneurposten in Herat wiederholte Streitigkeiten ausgebrochen sein sollen. Die politische Situation des Emirs ist eine äußerst schwierige in Rücksicht auf das gegenseitige Verhältnis Englands und Rußlands in Innerasien. Es ist daran zu zweifeln, ob er im stande sein wird, das strategische Dreieck Kabul-Herat-Kandahar als neutrale Zone zwischen den Machtsphären jener beiden Reiche intakt zu erhalten. Gelingt ihm oder seinem Nachfolger dies nicht, so wird A. ein Territorium sein, auf welchem sich zeigen muß, ob Rußland oder England die Fäden der asiatischen Politik geschickter zu spinnen weiß. Der Afghane fügt sich nur der Macht. Rußland ist darüber vollständig im klaren. Es wird an seinen Zielen festhalten. Von der Politik Englands wird es abhängen, ob Rußland auch hier sein Ziel, wie in Zentralasien überall, erreichen wird.

Vgl. Stein, A. in seiner gegenwärtigen Gestalt (in „Petermanns Mitteilungen“, 1878–79);

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