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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 19

eine reiche Flora, welche in überraschender Naturtreue in Tausenden von Bouketts, Guirlanden, Fruchtständern etc. die Wände schmückt und uns Gelegenheit gibt, die Flora Mittelitaliens eingehend zu studieren. Häufig vertreten finden wir in diesen Malereien den Ölbaum, die Cypresse, die Pinie, die aleppische Föhre, den Oleander, die Zwerg- und Dattelpalme, die Feige, den Mandelbaum, den Granatapfel und die Mispel. Als beliebtes Rankenornament an architektonischen Elementen, namentlich an Säulen, ferner auch für buntbemalte Krüge und Vasen gelten Epheu und Weinrebe.

Klein und gering waren die Anfänge der christlichen Kunst. Ihren ersten Schauplatz haben wir in den Katakomben Roms zu suchen. Sie äußern sich in Decken- und Wandgemälden, auf denen biblische Gestalten und Szenen zur Darstellung kommen, sodann in dem O. der Sarkophagskulpturen. Hier finden wir fast ausschließlich diejenigen Pflanzen vertreten, welche aus der Heilsgeschichte her tiefe symbolische Bedeutung haben: Epheu (Sinnbild der ewigen Dauer und Hoffnung), Palme (Zeichen des Sieges), Cypresse (Symbol der Unsterblichkeit), Weinrebe und Weinblatt (biblisches Gleichnis vom Weinstock, Tafel II, Fig. 1) behaupten den Vorrang. Die Frucht- und Blumenranken, welche nicht selten die Gemälde umziehen, setzen sich aus Kleeblättern, Weinblättern, Trauben, Lorbeerzweigen mit Früchten, Äpfeln, Orangen, Ähren, Feigen, Schwertlilien, weißen Lilien, auch in Stabform und zu Bündeln vereinigt, zusammen. Auch der Akanthus hat sich in Ranken- und Straußform in die altchristlichen Ornamente hineinverirrt (Fig. 3 beifolgender Tafel). Ohne allen Schwung, ohne Abwechselung füllen in stets sich wiederholenden spiraligen Windungen die einem dicken gedrehten Tau gleichenden Ranken oft ganze Flächen der Gemälde. Der Raum zwischen den Akanthusspiralen ist ausgefüllt mit Kreuzen (Symbol der Christenheit) und allerlei christlich-symbolischen Tiergestalten: Adlern, Tauben, Reihern, Fischen, Hirschen und Schafen, unter den letztgenannten auch Christus als Opferlamm mit Kreuz und Glorienschein dargestellt.

Das O. der byzantinischen Kunst, eine Verschmelzung von altchristlichen mit griechisch-römischen und asiatischen Elementen, äußert sich in wunderlichem Laub- und Riemenwerk, Tierfratzen, Blätterwellen, Eierstäben, Akanthusblättern, Akanthussträußen und Akanthusranken, welche die Knäufe der Pfeilersäulen umziehen (Fig. 4 beifolgender Tafel). Der Akanthus erscheint höchst unglücklich stilisiert, starr, tot, trocken, ohne allen Schwung und erweckt den Eindruck, als sei er aus einem verstaubten Herbarium herausgenommen und an den Steinkern des Kapitäls geheftet worden (Taf. II, Fig. 6).

Der byzantinische Stil beherrschte das ganze frühe Mittelalter, verfeinerte sich aber in seiner weitern Ausbildung durch fortwährende Hinzunahme und glückliche Stilisierung antiker architektonischer und ornamentaler Typen bei Beginn des 10. Jahrh. zum sogen. romanischen Stil. Das Ornamentenwerk, das die Wände und die Würfel- oder Glockenkapitäle der Säulenschäfte tragen, wird beweglicher, eleganter, lebhafter und geschmackvoller in Form und Farbe und zeugt in seiner glücklichen symmetrischen Anlage und Verteilung von feiner künstlerischer Berechnung. Die sehr stilisierten Blatt- und Rankenornamente, aus Akanthus (Tafel II, Fig. 22–24), Schwertlilienblüten (Tafel II, Fig. 24), Lotos und Palmetten bestehend, sind mit allerlei Riem- und Flechtwerk durchwoben und mit Tiergestalten der altchristlichen Kunst und phantastischen Tiergebilden geziert.

In dem arabisch-maurischen Phantasieornament, das sich durch ungezügelte Unruhe, unerschöpflichen Formen- und Farbenreichtum auszeichnet und namentlich in dem vagen und doch fein berechneten Linien-, Ranken-, Blattwerk- und Schriftzeichenspiel, der ureignen Schöpfung der Arabeske (Tafel II, Fig. 7, 8, 10, 12, 13), charakterisiert, konnte die Pflanzenform nur streng stilisiert Berücksichtigung finden. Wie die Grundzüge der griechisch-byzantinischen Kunst in den ältesten Bauwerken der Mauren unverkennbar sind, so nimmt auch das O. seinen Ausgang von griechisch-byzantinischen Motiven. Der Lotos und die Palmette, beide anfangs in ziemlich getreuer Wiedergabe, verlieren später durch Auslassung einiger Blätter in den gestrahlten Blüten die strenge Geschlossenheit und können sich nun, von einem Punkte ausgehend, in dem neugewonnenen Raume leicht und schwungvoll entfalten. Das ganze federartige Gebilde nähert sich in seinem neuen Habitus mehr dem Charakter der Schwertlilie und wird durch geniale, fein durchdachte Fortführung seiner Elemente in kühnen Schnörkeln, Bogen und Linien zum Mittelpunkte der Rankenzüge, die immer und immer wieder zum ursprünglichen Motiv zusammentreten, um sich entweder über die ganze Fläche des Ornaments zu verbreiten oder in sich abgeschlossen das Netzwerk der einzelnen geometrischen Figuren zu füllen und zu beleben. Zu den Pflanzenvorbildern, welche ungeachtet der strengen Behandlung im arabisch-maurischen O. erkennbar sind, gehört in erster Linie das Akanthusblatt (Tafel II, Fig. 6), das sich den Rankenzügen und Flechtmustern federähnlich, oft durchbrochen, scharf spitzblätterig einschmiegt und dem gefiederten Blatte der Roßkastanie, dem der Weinrebe und der Vogelfeder den Vorrang streitig macht. Das Weinblatt ist teils naturalistisch gehalten, zeigt 3–5 Blattlappen, oder es ist rosettenartig stilisiert, fünflappig und hat in seiner Mitte eine Traube (Fig. 5 beifolgender Tafel), ist demnach eine ziemlich getreue Nachahmung desselben Ornamentengebildes der griechischen Kunst. Die Traube erfährt eine eigentümliche Modifikation, die sie, nebenbei gesagt, mit der Darstellung auf altägyptischen Denkmälern gemein hat, sie erscheint nämlich in einer ovalen oder mandelförmigen Hülse steckend. An weitern Pflanzen und Pflanzenteilen enthalten die Ornamente Blätter der Farngewächse, Knospen der Orangen, Granatäpfel in mannigfaltigster, stilisierter Form, Pinienzapfen (Tafel II, Fig. 11), Palmenwedel und Blüten vom Schneckenklee (Medicago arborea). Die Nachbildung von Tiergestalten war den Künstlern nach dem Gesetz des Koran streng verboten. Daher ist die Fauna vom arabisch-maurischen O. vollständig ausgeschlossen, und die Löwen im Hofe der Alhambra sowie einige vereinzelte, immer streng stilisierte Darstellungen aus dem Bereiche der Tierwelt sind als seltene Ausnahmen für das Umgehen des Verbotes zu bezeichnen.

In der gotischen Kunst, in welcher alle Elemente der Architektur die reichste Ornamentierung zeigen, bricht der Ornamentist mit den alten Traditionen und wählt seine Motive aus der einheimischen Flora. Akanthus und Lotos sind gänzlich verschwunden; sie haben einer Fülle neuauftretender Pflanzenmotive den Platz geräumt, die sich in wunderbarer Schönheit und sprechender Natürlichkeit zu entfalten beginnt. Dennoch ist von einer mechanischen Kopierung

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 19. Bibliographisches Institut, Leipzig 1892, Seite 688. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b19_s0702.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2021)