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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 19

In noch schärferer Charakteristik ihres Gesamthabitus und der einzelnen Details erscheint die Papyrussäule als porträthafte Nachbildung der Papyrusstaude (Papyrus antiquorum). Auf dem kantig gerippten Säulenschaft, der dem dreikantigen, sich nach oben zu verjüngenden Schaft entspricht, erhebt sich das kegelförmig abgestumpfte Knospenkapitäl (Taf. I, Fig. 8) mit einem Kranz gestützter Hüllblätter, unter ihnen die fünf Haftbänder, von denen sogar die abwärts laufenden Schleifen angedeutet worden sind. Im neuen Reiche, wo die Pflanzensäulen nach und nach kolossale Dimensionen annehmen, glättet sich der Schaft, um zur Aufnahme von mythologischen Szenen, hieroglyphischen Inschriften, Königsschilden etc. zu dienen. Dem dekorativen Schmucke am Fuß des Säulenschaftes wird in allen Epochen die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet. Selten nur fehlt ihm der charakteristische Kranz aufsprossender, eiförmig zugespitzter Blätter mit ihren parallel laufenden Nerven. In ihn hinein drängen sich stilisierte Lotosblumen, Lotosblumensträuße, Papyrusknospen, stilisierte Papyrusdolden, Schilfblätter und Königsschilde, seitlich eingeschlossen von Uräusschlangen, bekrönt mit der Sonnenscheibe etc. Die Säulenkapitäle in Gestalt voll erschlossener Blumenglocken werden für die altägyptischen Künstler zum Prüfstein ihrer künstlerischen Begabung, ihres Farben- und Formensinnes, ihrer Genialität und Phantasie, denn hier gilt es, diese oft kolossalen Flächen mit Blattkreisen, einzelnen Blättern, aufschießenden, langgestielten Lotos- und Papyrusknospen und -Blüten, Schilf- und Palmenblättern plastisch und in Farben geschmackvoll zu dekorieren und die künstliche Blumenfülle so zu verteilen und anzuordnen, daß die schillernde Blütenpracht voll und ganz zur Geltung kommt (Taf. I, Fig. 7). Ja, an einigen Lotusblattkapitälen hat der Künstler sogar den an den bogig geschweiften Blättern hängenden Wassertropfen getreulich nachgebildet. Von besonderer Eigenart sind auch die formvollendeten Palmenkapitäle, welche gewöhnlich mit neun graziös geneigten Palmenblättern umwunden erscheinen und zur Vervollständigung des Motivs nicht selten noch mit Datteltrauben geziert sind. Seltener erscheinen die würfelförmigen Kapitäle mit der Hathormaske. Wie in der Architektur, so wiederholen sich an allen Kunsterzeugnissen der alten Ägypter die typischen Formen des Lotos und Papyrus. Vielfach in Verbindung mit Palmenblättern, stilisierten Weintrauben, Rosetten etc. finden wir sie als dekoratives Element in den Malereien der Mumienkisten, in den Mustern der Flechtwerke, Gewebe, Möbelstoffe, Teppiche, Decken- und Wandmalereien. Die gewebten altägyptischen Stoffe sind entweder einfach glatt, wellenbogen- oder zickzackförmig gestreift, flechtwerk-, schachbrett- oder mäanderartig gemustert, oder sie zeigen ein fein berechnetes Arabeskenwerk von zierlich geschlungenen Spirallinien, zwischen welche sich außer phantasievoll gezeichneten Lotos- und Papyrusglocken Rosetten, Sternchen (Taf. I, Fig. 9 u. 10), Skarabäen, Uräusschlangen, Namensschilder, Hieroglyphenschriften, die geflügelte Sonnenscheibe etc. als füllende Elemente einschmiegen. Auch das Kunsthandwerk bemächtigt sich dieser Pflanzen. Vasen, Schalen, Krügen, Libationsgefäßen etc., die aus den Werkstätten der Töpfer hervorgehen, hat die geschlossene Knospe oder geöffnete Blütentulpe des Lotos als Modell gedient, und die auf der Innen- oder Außenseite aufgemalten Kelch- oder Blumenkronblätter erhöhen den Eindruck der Natürlichkeit. Amulette Musikinstrumente, die Schnäbel der Boote und Schiffe, die Griffe der Spazierstöcke, Dolch- und Spiegelgriffe, Fächer, Wedel, Heerzeichen, Parfümbüchsen, Parfümlöffel und unzählige kleine Luxusgegenstände aus altägyptischen Frauengemächern zeigen in überraschender Weise, wie geschmack- und phantasievoll zugleich das Kunstgewerbe die gegebenen Pflanzenmotive zu variieren und zu verwerten verstand. Die Ornamentik der mannigfaltig, geschmackvoll und originell gestalteten Trankopferbecher, Trinkbecher, Krüge und Schalen ist äußerst reich und phantastisch und gewinnt besonders dadurch an Lebendigkeit, daß der Künstler Tierfiguren (Löwen, Ziegen, Widder, Gazellen, Affen, Füchse, Geier, Sperber, Greife, Krokodile etc.) teils als Henkel, teils als Deckelaufsatz oder auch als selbständiges dekoratives Element angefügt hat. Ungemein reich ornamentiert sind auch die prächtigen, geschmackvollen Erzeugnisse der Goldschmiedekunst: die goldenen Armspangen in Form von Uräusschlangen, die zierlichen Ketten, welche sich aus Skarabäen, goldenen Fliegen, Gänseköpfchen, Sphinxen, Sperbern, Widderköpfen, Greifen, Lotosknospen und -Blüten zusammensetzen und mit Lapislazuli, Türkisen, Glasflüssen etc. verziert worden sind. Zur Erinnerung an den siegreichen Kampf, den der Gott des Lichtes, Horos, gegen den Seth-Typhon (das Böse) zu bestehen hatte, und in welchem er sich in eine geflügelte Sonnenscheibe verwandelte, der sich noch zwei schnell tötende Uräusschlangen als Helferinnen zugesellten, erscheint nicht nur über den altägyptischen Tempelpforten, sondern auch an Mumiensärgen, Giebeln der Stelen etc. die von zwei Uräusschlangen umgebene, oft auch von einem heiligen Skarabäus (Symbol der Unsterblichkeit) gehaltene geflügelte Sonnenscheibe (Taf. I, Fig. 6) als Schutzmittel gegen die Feinde des Horos, der auch die Verstorbenen zum neuen Leben führt.

In den Mustern der herrlichen Teppiche und Gewebe Indiens und Persiens taucht in geschmackvoller Anordnung ein wunderbar schöner Blumenflor auf. Neben Lotos und Palme, die auch in dem assyrischen O. in Verbindung mit Rosetten und Palmetten auftreten (Tafel I, Figur 1–5), sind es prächtig gezeichnete Rosen, Nelken, Granaten, Geißblattblüten, Haselnuß, Farnkraut und noch eine große Menge gestielter und trichterförmiger Blüten von lebhafter Farbe, die sich der nähern Bestimmung entziehen. Doch wird der reiche Blumenplan von buntschillernden Vögeln und allerlei vierfüßigen Tieren belebt, die über die großen und kleinen Blütenglocken hinflattern und an dem grünen Blattgeranke auf und ab klettern. Unter den Vögeln ist es besonders der Pfau, dessen Federkleid sich der sorgsamsten Ausführung erfreut (s. auch Taf. IV, Fig. 6–13).

Nicht minder reich und prächtig schmückt sich im alten China das O. mit Pflanzengebilden. Es ist eine tolle, phantastische Traumwelt, die uns in den Mustern der seidenen Gewebe und der wundervollen Bemalung der Vasen entgegentritt. Die quecksilberartige Lebendigkeit des Ganzen wird durch graziöse Leichtigkeit, Schwung der Umrisse und brillanten Farbenglanz noch besonders erhöht. Die Malereien bekunden die größte Naturtreue, die hauptsächlich in der Darstellung der Pflanzengebilde gipfelt. Der Künstler ist zugleich Botaniker, und aus seiner aufmerksamen Beobachtung erwächst uns die Möglichkeit, die Flora der Ornamente genau zu bestimmen, welche sich aus Blüten und Blättern des Theestrauches, aus Rosen, Päonien, Kamelien, Zweigen des Pfefferstrauches, Melonen und den Blüten des

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 19. Bibliographisches Institut, Leipzig 1892, Seite 686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b19_s0700.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2021)