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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 19

diesem Falle bestimmte Stellen der beiden linken Netzhauthälften; diese verlegen aber die ihnen gewordene Erregung in die rechte Hälfte des Gesichtsfeldes, und dahin richtet sich der Blick. Diese am Affen gemachten Beobachtungen Schraders vermochten Munk und Obregia auch für den Hund zu bestätigen. In ihrer Erklärung derselben unterscheiden sich diese Forscher von Schäfer im wesentlichen darin, daß sie eine mehr direkte Wirkung der Hirnrindenreizung auf die Augenbewegungen annehmen. Jedenfalls vermochten sie eine Mitwirkung der den Augenbewegungen zugeordneten motorischen Rindenabschnitte auszuschließen. Sie glauben, daß es sich um einfache Reflexe handle, zu deren Zustandekommen nur Gesichtsempfindungen, aber keine Gesichtsvorstellungen den Grund abgeben. Ganz analoge Erscheinungen am Ohr beobachtete Baginsky bei Reizungen der im Schläfenlappen gelegenen Hörsphäre beim Hunde. Hier treten neben Öffnen der Augen Bewegungen der der Reizungsseite entgegengesetzten Ohrmuschel auf, die vermutlich in ähnlicher Weise zu stande kommen, wie die Bewegungen am Auge bei Reizung der Sehsphäre.

Schrader hat durch neue Versuche die Bedeutung des Großhirns in den verschiedenen Tierklassen festzustellen gesucht. Er entfernte bei Amphibien, Reptilien, Vögeln die Großhirnhalbkugeln und stellte fest, welche Funktionen danach erhalten blieben, welche dauernd ausfielen. Ein besonderes Interesse gewähren seine Beobachtungen an Fröschen, die vielfach von denen früherer Untersucher abweichen. Während man bisher, hauptsächlich gestützt auf die Experimente von Flourens und von Goltz, der Meinung war, ein großhirnloser Frosch habe die willkürliche Beweglichkeit verloren, er bewege sich, wenn man ihn nicht reize, niemals von selbst, er suche keine Nahrung, er quake nicht ohne äußere Reizung, er habe den Geschlechtstrieb wie überhaupt alle Instinkte verloren, zeigt Schrader, daß Frösche, denen man einzig und allein das Großhirn genommen, bei denen man insbesondere die nahe gelegenen Sehhügel geschont hat, bei längerer Beobachtung ein ganz andres, von dem unversehrter Frösche kaum verschiedenes Verhalten darbieten. Der grohhirnlose Frosch bewegt sich spontan; er verläßt, ohne dazu von außen irgendwie angeregt zu sein, seinen Platz auf einem vor Erschütterung gesicherten Galvanometerpfeiler; er begibt sich freiwillig ins Wasser und aus diesem wieder ans Land; er bezieht im Herbst sein Winterquartier, um es im Frühjahr wieder zu verlassen. Er fängt und frißt Fliegen, er schwimmt, springt, klettert ganz wie ein gesunder Frosch; er weiß sich im Raume gut zurecht zu finden. Sein Fortpflanzungsvermögen zeigt sich in keiner Weise geschädigt. Seinen Feinden weiß er sich mit derselben Gewandtheit zu entziehen, wie das unverletzte Tier. Diese Versuche führen zu dem Schluß, daß bei den Amphibien, speziell bei dem als Repräsentant dieser Tierklasse gewählten Frosch, das Großhirn noch keinen sichern Einfluß auf die Lebensäußerungen gewonnen hat.

Je höher man aber in der Tierreihe aufsteigt, desto mehr macht sich ein solcher Einfluß geltend. So zeigen schon die Reptilien (Schrader hat Schlangen untersucht), obwohl auch sie nach der Fortnahme des großen Gehirns noch eine Fülle von spontanen Bewegungen darbieten, obwohl sie noch im stande sind, ihre Tastempfindungen zur Erhaltung des Gleichgewichts, zur Ausführung sehr komplizierter Bewegungen zu benutzen, doch insofern einen Defekt gegenüber dem normalen Tier, als ihnen gewisse „Ausdrucksbewegungen“ fehlen, durch welche sich beim unverletzten Tier die Furcht, der Zorn äußern.

Sehr eingehend hat Schrader die Erscheinungen untersucht, welche des Großhirns beraubte Vögel darbieten. Auch bei ihnen ist die spontane Beweglichkeit erhalten; sie fliegen durch weite Räume; auch die Motilität der hintern Extremitäten ist niemals dauernd geschädigt. Die Sinne funktionieren und üben einen bestimmenden Einfluß auf die Bewegungen aus. Die Instinkte sind nicht verschwunden, denn die Tiere äußern Hunger und Durst und zeigen Geschlechtstrieb. Dennoch fehlt ihnen etwas, was sie wesentlich von gesunden Vögeln unterscheidet: sie haben die persönlichen Beziehungen zur Außenwelt verloren. Die Außenwelt ist ihnen nur ein mit Dingen angefüllter Raum; diese Dinge werden wahrgenommen und wirken bestimmend auf die Bewegungen, aber die Bedeutung, die ihnen ein gesundes Tier beilegt, haben sie für das großhirnlose verloren. Zu dieser freilich nicht ganz neuen Auffassung gelangte Schrader durch eine sehr eingehende Analyse der vorhandenen sensorischen Erscheinungen, insbesondere der Sehfunktion. Das des Großhirns beraubte Tier ist weder blind noch taub, aber es erkennt die wahrgenommenen Gegenstände nicht als das, was sie wirklich sind. Ein großhirnloser Falke stürzt sich auf seine Beute, erfaßt und tötet sie; aber mit derselben Leidenschaft, mit der er eine Maus erjagt, fährt er auf andre sich bewegende oder künstlich bewegte Gegenstände los. Das Futter als solches erkennt er nicht; ist das von ihm ergriffene Tier erdrückt und dadurch ruhig geworden, so läßt er es los und macht keine Anstalten, es zu verzehren. Das großhirnlose Tier ist also nach dem von Munk eingeführten Ausdruck als seelenblind zu bezeichnen, und analoge Schädigungen haben die übrigen Sinne erfahren. Der großhirnlose Vogel frißt niemals von selbst; er muß gefüttert, das Futter ihm in den Schnabel oder sogar in den Rachen geschoben werden, damit er es verschlucke. Dies war schon früher beobachtet worden; man hatte bemerkt, daß ein solches Tier auf einem Kornhaufen verhungern würde. Stefani mußte eine des Großhirns beraubte Taube, die er 5 Jahre lang beobachtete, fortdauernd künstlich ernähren.

An Säugetieren hat Schrader eigne Untersuchungen über die Folgen der Großhirnexstirpation nicht angestellt. Er erwähnt hier die einschlägigen neuern Beobachtungen von Goltz, die mit den an Vögeln gewonnenen Erscheinungen in einigen wesentlichen Punkten gut übereinstimmen. Goltz vermochte einen seines Großhirns beraubten Hund 51 Tage am Leben zu erhalten. Das Tier konnte stehen und gehen, sich auf den Hinterbeinen emporrichten. Es kaute und verschluckte die ihm ins Maul gesteckte Nahrung, war aber unfähig, selbständig zu fressen und zu saufen. Schlafen und Wachen wechselten bei ihm, wie bei einem normalen Hund. Aus dem Schlaf geweckt, öffnete der Hund die Augen und streckte sich. Vor der Fütterung war er stets sehr unruhig; gesättigt beruhigte er sich und schlief ein. Er konnte, je nach dem Anlaß, winseln, knurren, bellen und heulen. Auf Schalleindrücke antwortete er nicht. Geruchs- und Gesichtsnerv waren bei der Operation durchschnitten worden. Über die bei so großen Hirndefekten übrigbleibenden Leistungen der Sinne konnte deshalb dieser Fall keine zureichende Auskunft geben. – Über Punktion des Gehirns s. Innere Medizin.

Geiser, s. Grundwasser.

Geisteskrankheiten (bei den Angehörigen verschiedener Rassen und Völker). Nach den Untersuchungen

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 19. Bibliographisches Institut, Leipzig 1892, Seite 360. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b19_s0374.jpg&oldid=- (Version vom 13.11.2021)