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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 18

Die Betrachtungen, welche zur Theorie vom asymmetrischen Kohlenstoffatom führten, erwiesen sich auch in andrer Richtung fruchtbringend, nämlich zur Erklärung der Isomerie gewisser ungesättigter Kohlenstoffverbindungen. Ein Kohlenstoffatom hat vier freie Affinitäten, CH4, ein System von zwei miteinander verbundenen Kohlenstoffatomen besitzt jedoch niemals acht, sondern nur sechs, vier oder auch nur zwei freie Affinitäten; wir kennen Kohlenwasserstoffe von der Zusammensetzung C2H6 Äthan, C2H4 Äthylen, C2H2 Acetylen. Wir erklären dies durch die Annahme, daß die Affinitäten der beiden Kohlenstoffatome sich gegenseitig absättigen, und unterscheiden einfache, doppelte und dreifache Bindung:

H3C−CH3 Äthan
H2C=CH2 Äthylen
HC≡CH Acetylen,

wobei man Verbindungen mit einfacher Bindung als gesättigte, solche mit doppelter oder dreifacher Bindung als ungesättigte bezeichnet. Die ungesättigten Verbindungen besitzen die Eigenschaft, durch Addition von Wasserstoff oder Halogenen unter Auflösung der mehrfachen Bindung in gesättigte überzugehen. Nun finden sich unter den ungesättigten Verbindungen vom Typus des Äthylen, also mit doppelter Kohlenstoffbindung, eine Reihe abnormer Isomerien, welche sich den einfachen strukturchemischen Anschauungen nicht unterordnen, wohl aber unter der Annahme eines verschiedenen geometrischen Baues befriedigend erklärt werden können. Sind zwei Kohlenstoffatome mit nur einer Valenz, d. h. in nur einer Richtung, miteinander verbunden, so werden sie frei um eine Achse drehbar sein können, welche in der Richtung der verbindenden Valenz liegt, bei allen ungesättigten Verbindungen, in welchen zwei Kohlenstoffatome unter Aufwand je zweier oder dreier ihrer Valenzen miteinander verkettet sind, wird eine solche Drehung ausgeschlossen sein; die Systeme sind gegenseitig fixiert. Denken wir uns jetzt den Fall, daß die mit den Kohlenstoffatomen verbundenen Radikale paarweise verschieden sind, so wird die freie Rotation durch ein neues Moment beeinflußt werden, nämlich durch die spezifischen Affinitäten der Radikale. Auch innerhalb desselben Moleküls werden sich diejenigen Atome am stärksten anziehen und sich daher möglichst zu nähern suchen, welche bei direkter Verbindung die größte Affinität zu einander äußern. Cl wird von H stärker angezogen als Cl von Cl oder H von H, in einem Molekül H2ClC–CClH2 werden sich die beiden Kohlenstoffatome infolgedessen so drehen und feststellen, daß nicht die beiden Chloratome, sondern je ein Cl und ein H sich auf derselben Seite der Achse befinden. Dieser Gedanke führt unmittelbar dazu, „begünstigte“ und „weniger begünstigte“ Konfigurationen anzunehmen, die letztern werden entweder überhaupt nicht beständig sein oder Neigung haben, in die begünstigte Form überzugehen. Ist nun aber die Lage der beiden Kohlenstoffatome gegeneinander durch doppelte Bindung fixiert, so können die an Kohlenstoff gebundenen Atome die einmal eingenommenen Bindestellen ohne besondere Veranlassung nicht mehr vertauschen, und es ist die Möglichkeit vorhanden, daß außer der begünstigten auch die weniger begünstigte Form existenzfähig ist. Nehmen wir als Beispiel das System xyC=Cxy, so ergeben sich zweierlei räumlich verschiedene Anordnungen, die leicht durch stereometrische Figuren veranschaulicht werden können, wenn man sich wieder die vier Valenzen des Kohlenstoffatoms nach den Ecken eines Tetraëders gerichtet denkt. Es genügt jedoch auch zum Verständnis, jene geometrische Verschiedenheit symbolisch auszudrücken, indem man die Zeichen der Radikale rechts und links von den Zeichen der Kohlenstoffatome setzt, mit welchen sie verbunden sind. Das System xyC=Cxy kann demzufolge in den beiden Formen:

x.C.y  und  x.C.y
 
x.C.y   y.C.x

auftreten. Hierher gehört nach den neuern Anschauungen die Isomerie der Fumar- und Maleïnsäure. Beide besitzen die Zusammensetzung C2H2(COOH)2. Sie entstehen bei der trocknen Destillation der Apfelsäure; Fumarsäure findet sich auch im freien Zustande in einigen Pilzen und Flechten. Die stereochemische Betrachtungsweise erteilt diesen beiden Säuren die Formeln:

HOOC. C .H   H. C .COOH
       
H. C .COOH H. C .COOH
Fumarsäure Maleïnsäure.

Die zweite Formel wird der Maleïnsäure zugeschrieben, erstens, weil sie die weniger beständige ist, zweitens, weil die Leichtigkeit, mit welcher sie in ihr Anhydrid übergeht, auf eine gewisse Nähe der Karboxylgruppen schließen läßt. Führt man den Säuren Wasserstoff zu, so gehen sie beide in eine und dieselbe Verbindung, nämlich in gewöhnliche Bernsteinsäure, über HOOC.CH2–CH2.COOH. Durch den Übergang der doppelten Bindung in eine einfache schwindet die erste Vorbedingung für die Existenz isomerer Körper, weil die beschränkte Drehbarkeit aufgehoben und freie Rotation möglich wird. In überraschender Übereinstimmung mit den Thatsachen stehen einige weitere Konsequenzen, welche aus dieser Hypothese gezogen werden müssen. Wenn nämlich ein Molekül mit dreifacher Kohlenstoffbindung in ein solches mit zweifacher Bindung durch Addition von Wasserstoff oder Halogenen übergeht, so ergibt sich notwendig aus der geometrischen Vorstellung, daß die beiden hinzutretenden Atome auf derselben Seite der Achse des Moleküls sich anlagern müssen. Behandelt man den Kohlenwasserstoff Tolan mit Chlor, so entsteht ein Dichlorid vom Schmelzpunkt 143°, welchem man nach dem vorhergehenden die unbegünstigte Konfiguration zuschreiben muß. Versucht man nun das Dichlorid aus dem Tolantetrachlorid C6H5.Cl2.C–C.Cl2.C6H5 durch Chlorentziehung darzustellen, so erhält man nicht dasselbe, sondern der Hauptsache nach ein isomeres Dichlorid (Schmelzpunkt 63°). Wir erteilen diesem Dichlorid die begünstigte Form , da es aus einer Verbindung mit einfacher Kohlenstoffbindung, in der freie Drehung möglich ist, hervorgegangen ist.

Die neuesten Erfolge der stereochemischen Forschung liegen auf dem Gebiete der Stickstoffverbindungen. Das bekannte Hydroxylamin ist befähigt, mit fast allen Körpern, welche die Karbonylgruppe = CO enthalten, in folgender Weise zu reagieren: . Unter den so gewonnenen Verbindungen, welche man unter dem Klassennamen der Oxime zusammenfaßt, finden sich zahlreiche Isomerien, welche durch eine Reihe ausgezeichneter Untersuchungen als stereochemische erkannt worden sind. Alle bisher bekannt

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 18. Bibliographisches Institut, Leipzig 1891, Seite 885. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b18_s0901.jpg&oldid=- (Version vom 21.9.2022)