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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 16

„Essai sur les mœurs et l’esprit des nations“ (1756; deutsch von Wachsmuth, Leipz. 1867, 6 Bde.); „Candide“ (1758); der Roman „Histoire de Russie sous Pierre I“ (1759); „Idées républicaines“ (1762); „Sur la tolérance“ und „Catéchisme de l’honnête homme“ (1763); „Contes de G. Vadé“; „Commentaire sur Corneille“; das „Dictionnaire philosophique“ (1764); mehrere Tragödien (darunter „Agathocle“, „Tancrède“, „Socrate“, „Irène“), Oden und eine Übersetzung des „Cäsar“ von Shakespeare (1764); „Pyrrhonisme de l’histoire“ (1765); „La Bible enfin expliquée“ (1776) etc. Im Februar 1778 besuchte der Vierundachtzigjährige noch einmal Paris, wo er mit Ehrenbezeigungen überhäuft wurde, aber, vielleicht infolge der dadurch veranlaßten Aufregung, in eine Krankheit verfiel und 30. Mai 1778 starb. Die Geistlichkeit in Paris verweigerte ihm ein kirchliches Begräbnis, und der Abbé Mignot, der ihn in der Abtei von Scellières beigesetzt hatte, ward sogar bestraft. 1791 wurden seine Gebeine auf Volksbeschluß im Panthéon beigesetzt. Die 100jährige Wiederkehr seines Todestags wurde 1878 in Paris mit Pomp und in zahlreichen Festschriften gefeiert.

Voltaire war Philosoph im französischen Sinn, Geschichtschreiber, dramatischer und Romandichter. Seine sogen. philosophischen Schriften bestreiten wirkliche oder vermeinte Irrtümer oder Vorurteile oft mit kaustischer, unwiderstehlicher Schärfe, oft mit witzelnder Unkunde, oder sie tragen bald mit ermüdender Breite, bald mit absprechender Kürze den Locke-Condillacschen Sensualismus und Eudämonismus mit stetem Kampf gegen das Christentum vor. Seine historischen Darstellungen ermangeln, bei trefflicher Anordnung des Stoffs und höchst geistreicher und ansprechender Darstellung, doch der Wahrheit und Genauigkeit. Er war bei der wundersamsten Fülle von Kenntnissen ungründlich und oberflächlich, und wo nicht seine Unkunde zu Irrtümern führte, da thaten es seine lebhafte Phantasie und sein Haß gegen Christentum und Kirche. Ein Meisterstück romanhafter Geschichtschreibung ist die „Histoire de Charles XII“; auch der „Essai sur l’histoire générale et sur les mœurs et l’esprit des nations depuis Charlemagne“ ist reich an glänzenden Aperçus. Wertvoll besonders durch Reichhaltigkeit des Stoffs und anziehende Darstellung ist auch der „Précis du siècle de Louis XV“ (1768). Als Dichter exzellierte V. vor allem im Epigramm; sonst hat er weder in der Lyrik (am allerwenigsten in der Ode) noch in der Epik Großes geleistet. Sein Epos „La Henriade“ ist eine in wohllautenden Alexandrinern und mit glänzenden Deklamationen und Sentenzen reich ausgestattete, kalte historische Darstellung, die alles epischen Geistes ermangelt, und „La Pucelle“ ist ein in sittlicher Beziehung höchst verwerfliches, wenn auch in poetischer Hinsicht jenes weit überstrahlendes Gedicht. Dagegen sind seine kleinen, meist satirisch gehaltenen Romane und Erzählungen („Zadig“, „Micromégas“, „Candide“, „Jeannot et Colin“, „L’ingénu“, „La princesse de Babylone“ etc.) ausgezeichnete Leistungen, eine wunderbare Mischung von Ernst und Scherz, bezaubernder Leichtigkeit und Anschaulichkeit der Darstellung. Trotz des großen Fleißes, den V. auf seine Tragödien verwandte, und trotz seiner wunderbaren Produktivität hat er doch seine großen klassischen Muster, Corneille und Racine, nicht erreicht. Mehrmals versuchte er es auf Grund seiner Begeisterung für Shakespeare, dem französischen Drama mehr Bewegung und Freiheit zu geben; immer aber scheiterte er an dem Widerstand des Publikums, dessen Beifall er nicht entbehren konnte. Auch seine Stücke leiden unter dem Zwang der klassischen Regeln; auch bei ihm ersetzt Schilderung die Handlung, glänzende Rhetorik die Charakterzeichnung; am schwächsten aber ist sein Stil. Im Lustspiel, für welches sich seine so mächtige Individualität nicht eignete, hat er seinen größten Erfolg mit dem „Enfant prodigue“ davongetragen. – „Den großen Widerspruch seines Lebens zwischen seinem bedeutenden Talent und seinem ursprünglich kleinen und selbstsüchtigen Naturell hat V. nie gelöst. Geist und Bildung lassen ihn für die hohen und idealen Zwecke der Menschheit kämpfen; aber sein persönlicher Charakter zeigt die niedrigsten und kleinlichsten Schwächen, welche die menschliche Natur entstellen. Er ist eitel, gewinnsüchtig und unwahr. Seine Angriffe gegen die römische Kirche, ja gegen das Christentum sind leidenschaftlich, gehässig und frech und treten um so greller hervor bei der Leichtigkeit, mit der er sich um seines Vorteils willen an den kirchlichen Handlungen beteiligte. Seine Streitschriften sind fast immer Pasquille, sein Kampf gegen andre Schriftsteller meist persönliche Rache; er erlaubt sich Mittel, welche nur die Wirkung im Auge haben und es mit der Wahrheit niemals genau nehmen. Überall, wo es ihm ersprießlich dünkt, verleugnet er frech seine Bücher, statt ehrlich und mannhaft für sie einzustehen. In seiner Beurteilung Voltaires begnügt sich Strauß (s. unten) nicht mit der Lösung, wie sie Friedrich d. Gr. versucht: das Talent von dem Charakter zu trennen, alles Licht auf das erstere, allen Schatten auf den letztern fallen zu lassen; zu bedauern, daß ein so großer Geist ein so kleiner Mensch gewesen sei. Er versucht die Lösung in der Weise, daß er V. in den geschichtlichen Zusammenhang hineinstellt, dem er angehört. In diesem Sinn erscheinen seine Fehler teils als natürliche Wirkungen seiner Zeit und ihrer Verbildung, teils sogar als Mittel zu ihrer Umbildung. Nicht sind sie etwa darum keine persönlichen Fehler gewesen. Auch hat V. unter ihnen am meisten gelitten. Er lebte selten im Vollgefühl seiner Kraft, seines Wirkens, seines Wertes; die meiste Zeit seines Lebens war er in der Pein um untergeordnete, oft ganz unwürdige Zwecke befangen. Er ist nur so weit glücklich gewesen, als er gut gewesen ist.“ (Pfundheller.) Von den zahlreichen Ausgaben seiner Werke, von denen einen beträchtlichen Teil seine ausgedehnte und interessante, bis ins höchste Alter fortgeführte Korrespondenz ausmacht, erwähnen wir nur die von Beaumarchais, Condorcet und Decroix (Kehl 1785 bis 1789, 70 Bde.), die vortreffliche von Beuchot, dem Bibliographen Voltaires (das. 1829–41, 72 Bde.), ferner die von Furne (1835–38, 13 Bde.), Barré (1856–59, 20 Bde.), Hachette (1859–62, 40 Bde.), Didot (1859, 13 Bde.), Garnier (1878–85, 52 Bde.). Die deutschen Übersetzungen von Mylius u. a. (Berl. 1783–91, 29 Bde.), Gleich, Hell u. a. (Leipz. 1825–30, 30 Bde.) sind unvollständig und nicht besonders gelungen; eine Auswahl in 5 Bänden besorgte Ellissen (das. 1854). Briefwechsel: „V. et le président de Brosses“ (hrsg. v. Foisset, 2. Aufl. 1858); „Lettres inédites“ (hrsg. von Carayol, 2. Aufl. 1857); „V. à Ferney“ (Briefwechsel mit der Herzogin von Gotha, hrsg. von Bavoux, 2. Aufl. 1865); „Lettres inédites sur la tolérance“ (hrsg. von Coquerel, 1863).

Vgl. Bungener, V. et son temps (2. Aufl., Par. 1851, 2 Bde.); Maynard, V., sa vie et ses œuvres (das. 1867, 2 Bde.); Strauß, Voltaire (sechs Vorträge, 4. Aufl., Bonn 1878); Rosenkranz im „Neuen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 16. Bibliographisches Institut, Leipzig 1890, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b16_s0280.jpg&oldid=- (Version vom 28.9.2022)