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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13

dieselben aus einem ursprünglichen Vermögen, zu empfinden (sensation), und einem, auf das Empfundene zu reflektieren (reflection), abzuleiten. Aus ersterm Bemühen ist die systematische Seelenvermögenstheorie der Wolfschen Schule, aus letzterm die genetische (die zusammengesetzten und reichern aus einfachen und elementaren Seelenvorgängen ableitende) P. der englischen, schottischen und französischen Empiristen und Sensualisten (Locke, Hume, Condillac) hervorgegangen. Die materialistische P. des Hobbes haben die französischen und englischen Encyklopädisten und Ärzte sowie die neuern französischen und deutschen Materialisten und Positivisten (Holbach, Lamettrie, Priestley, Cabanis, Comte, L. Feuerbach, Moleschott, Büchner u. v. a.) erneuert. Die P. Wolfs wurde von Kant seiner Kritik zu Grunde gelegt und deren Nomenklatur von seinen idealistischen Nachfolgern fast unverändert beibehalten, die Annahme der Seele aber als Folge eines angeblichen (obgleich unvermeidlichen) Fehlschlusses entweder ganz fallen gelassen, oder doch deren vom Leib, dessen „Idee“ sie sein soll, abgesonderte Existenz in Frage gestellt. Unter den realistischen Nachfolgern Kants gingen die einen mit Beseitigung der „mythologischen“ Seelenvermögen auf Leibniz und Locke zurück und gestalteten die P. als genetische Entwickelung des Seelenlebens aus elementaren Bewußtseinsvorgängen im Innern eines atomistischen Seelenwesens (Herbart und seine Schule, Lotze), während die andern den leeren Platz der von Kant aus dem Bereich der Erfahrung und Erkenntnis ausgewiesenen Seele entweder durch ein „Hirngespinst“ (Schopenhauer) im materialistischen oder durch „das Gespenst einer Seele“ (Mystiker und Spiritisten) im supranaturalistischen Sinn (Schubert, Eschenmayer, Just. Kerner u. a.) ausfüllten. Die seit alters her zur P. gerechneten und von derselben als „Einfluß des Leibes auf die Seele und dieser auf den Leib“ (Naturell, Temperament im gesunden, Seelenstörung, Geisteskrankheit im kranken Zustand) abgehandelten Wechselbeziehungen psychischer (Bewußtseins-) und somatischer (körperlicher) Vorgänge sind in jüngster Zeit zum Gegenstand einer von derselben sich absondernden, ihre Wurzeln einerseits in der P., anderseits in der Physiologie schlagenden Wissenschaft, der sogen. physiologischen P., gemacht worden, die sich die Aufgabe stellt, die organischen und physiologischen Bedingungen der mentalen Vermögen und Fähigkeiten, sei es am gesunden („eigentliche“), sei es am kranken Menschen („pathologische, physiologische P.“), zu studieren. Als Vorläufer derselben können im vorigen Jahrhundert Bonnet, Hartley, insbesondere Cabanis („Rapports du physique et du moral“) u. der Kranioskop Gall, als ihre wissenschaftlichen Begründer und Ausbildner müssen, außer dem Psychophysiker Fechner, die Physiologen E. H. Weber und Helmholtz und in systematischer Form der von der Physiologie zur (induktiven) Philosophie übergegangene Wundt in Deutschland, Broca und Chorcot in Frankreich, Huxley, Maudsley und Carpenter in England genannt werden. Die wichtigsten von ihr bisher in exakter, auf dem Weg des Experiments (experimentelle P.) am lebenden (tierischen) u. der pathologischen Sektion am toten Organismus erfolgreich durchgeführter Weise erforschten Thatsachen gehören dem Gebiet der Sinnesfunktionen („Lehre von den Tastempfindungen“: Weber; „Theorie des Sehens und Lehre von den Tonempfindungen“: Helmholtz; „Tonpsychologie“: Stumpf), ferner der Theorie der cerebralen Lokalisation (d. h. der Verteilung vereinbarer geistiger oder durch solche bedingter Fähigkeiten, wie der des Sprechens, Schreibens, Lesens und Verstehens, an gewisse Hirnpartien, so daß die Zerstörung oder der Mangel der letztern das Aufhören jener zur Folge hat: Aphasie, Agraphie, Wortblindheit und -Taubheit), endlich des sogen. Muskelsinns (Bain), der Vererbung (vgl. Ribot, L’hérédité psychologique, 2. Aufl., Par. 1882), der Suggestion, der Verdoppelung des Bewußtseins etc. an. Vgl. zur P. außer den Hauptwerken fast aller Philosophen insbesondere die Schriften der Herbartschen und der neuern englischen (an Locke anknüpfenden) Psychologenschule (A. Bain u. a.), zu welch ersterer trotz prinzipieller Abweichungen auch Lotzes, zu welch letzterer (in Deutschland) auch Brentanos Darstellungen der P. zu zählen sind. Unter jenen sind Drobisch, Empirische P. (Leipz. 1842), Volkmann, Lehrbuch der P. vom Standpunkt des Realismus (3. Aufl., Köth. 1884, 2 Bde.), Rob. Zimmermann, Empirische P. (in dessen „Philosophischer Propädeutik“, 3. Aufl., Wien 1867), und vor allen Lotze, Medizinische P. (Leipz. 1852), und Wundt, Grundzüge der physiologischen P. (3. Aufl., das. 1887, 2 Bde.), sowie Lazarus, Das Leben der Seele (3. Aufl., Berl. 1883 ff., 3 Bde.), und dessen „Zeitschrift für Völkerpsychologie“, unter diesen ist nebst J. Mill, Analysis of human mind (neue Ausg., Lond. 1878, 2 Bde.), und Alex. Bain, Psychology (2. Aufl., das. 1872), insbesondere Brentano, P. vom empirischen Standpunkt (Leipz. 1874, Bd. 1), und als bedeutendste Erscheinung der theosophischen und spiritualistischen Herm. v. Fichte, P. (das. 1864–73, 2 Bde.), zu nennen. Zur Geschichte der P. ist außer dem (veralteten) Werk von F. A. Carus (Leipz. 1808) und den reichhaltigen Notizen in Volkmanns oben genanntem „Lehrbuch der P.“ insbesondere Ribot, „La psychologie anglaise contemporaine“ (2. Aufl., Par. 1875), u. dessen „La psychologie allemande“ (deutsch, Braunschw. 1881) anzuführen.

Psychomantīe (griech.), s. Nekromantie.

Psychonomīe (griech.), die Lehre von den Gesetzen der Entfaltung des Seelenlebens.

Psychopannychīe (griech.), Schlaf der abgeschiedenen Seelen vom leiblichen Tod bis zur Auferstehung; Psychopannychiten, die Anhänger dieser Lehre.

Psychopathologīe (griech.), Lehre von den Geisteskrankheiten (s. d.). Vgl. Psychiatrie.

Psychophysīk (griech.) unterscheidet sich von Psychologie (s. d.), welche ausschließlich psychische, und Physiologie (s. d.), welche ebenso ausschließlich physische Vorgänge zum Gegenstand hat, dadurch, daß sie sowohl psychische als physische Vorgänge oder vielmehr die Beziehungen zwischen beiden zum Gegenstand hat und daher zwischen obigen beiden Wissenschaften eine Mittelstellung einnimmt. Dieselbe untersucht einerseits die körperlichen Bedingungen der Seelenthätigkeiten (z. B. der Empfindung von Nervenreiz; Webersches oder Fechnersches Gesetz: „Empfindungen verhalten sich wie die Logarithmen ihrer Reize“), anderseits die Abhängigkeitsverhältnisse des Körpers von der Seele (z. B. der Muskelbewegung vom Willensimpuls). Weder eine Erkenntnis des innern Wesens des Psychischen noch die Identität desselben mit dem des Physischen ist dadurch gegeben. Vgl. Fechner, Elemente der P. (Leipz. 1859, 2 Bde.); Derselbe, In Sachen der P. (das. 1877); Derselbe, Revision der Hauptpunkte der P. (das. 1882); Langer, Die Grundlagen der P. (Jena 1876); Hering, Über Fechners psychophysisches Gesetz (Wien 1876); G. E. Müller, Zur Grundlegung der P. (Berl. 1878); F. A. Müller, Das Axiom der P. (Marb. 1882).

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13. Bibliographisches Institut, Leipzig 1889, Seite 445. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b13_s0445.jpg&oldid=- (Version vom 19.12.2021)