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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13

Erscheinungen ausgeht und weiter schließt; es ist aber keineswegs notwendig, daß dasjenige, zu dem sie auf diesem Weg mit Notwendigkeit gelangt, selbst innerhalb der Grenzen sichtbarer Erfahrung gelegen sei. Lassen sich sämtliche erfahrungsgemäß gegebene psychische Phänomene ohne Voraussetzung einer (körperlichen oder unkörperlichen) Seele überhaupt oder doch wenigstens einer unkörperlichen Seele befriedigend erklären, so ist im erstern Fall die Annahme eines Seelenwesens überhaupt, im letztern wenigstens die eines unkörperlichen überflüssig. Gibt es dagegen auch nur ein einziges thatsächliches Seelenphänomen, das sich ohne die Annahme eines atomistischen Seelenwesens schlechterdings nicht erklären läßt, so ist die letztere Annahme (wenigstens als Hypothese) notwendig. Neuere Psychologen (Herbart und dessen Schule, Lotze) haben als ein solches Phänomen die Einheit des Bewußtseins und Kants entgegenstehende Behauptung, daß die Annahme einer Seele ein (übrigens unvermeidlicher) Paralogismus der reinen Vernunft sei, selbst für einen Fehlschluß (quaternio terminorum) erklärt. Infolgedessen stehen einander in der P. sehr verschiedene philosophische Richtungen gegenüber. Der Materialismus und (Comtesche) Positivismus, welcher (unbewiesenerweise) nur eine Gattung von Phänomenen (die physikalischen) anerkennt, betrachtet die sogen. psychischen Phänomene als physische (Nervenschwingungen) und die sogen. Seele als ein körperliches Organ (Gehirn), zu dessen Funktionen das Denken gehört, wie zu jenen des Magens die Verdauung. Die P. fällt beiden sonach mit der Physiologie zusammen und ist von A. Comte folgerichtig der Biologie einverleibt worden. Die kritische Schule Kants hält zwar an der Nichtidentität psychischer und physischer Phänomene fest; aber sie läßt den Schluß von der Einheit des Bewußtseins auf die Existenz der Seele nicht gelten und gelangt dazu, eine Wissenschaft von den Seelenerscheinungen ohne Substrat, eine „P. ohne Seele“ (Lange) zu konstruieren. Die idealistischen Nachfolger Kants sehen (nach dem Vorgang Spinozas) Physisches und Psychisches als verschiedene Seiten desselben identischen Wesens an und sprechen demgemäß der Seele als „Idee des Leibes“ jede von diesem abgesonderte Existenzweise als Einzelwesen ab. Die realistischen Nachfolger Kants (Herbart und seine Schule, Lotze) schließen von der Thatsache der Einheit des Bewußtseins, die keine „itio in partes“ erlaubt, auf die unteilbare Natur des Seelenatoms (Monade, einfaches Reale) als Trägers derselben und leiten aus dieser gewisse (sonst unverständliche) Fundamentalgesetze des Seelenlebens, wie die (Lockesche) „Enge des Bewußtseins“ und die innige Verbindung (Ideenassociation) der gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander in der Seele gegenwärtigen Vorstellungen, ab. Als beschreibende Wissenschaft unterscheidet die P. mindestens drei Gattungen verschiedener Seelenvorgänge, die sie als Vorstellungen (s. d.), Gefühle (s. d.) und Strebungen (Begierden, Willensakte, s. Wille) bezeichnet; als erklärende nimmt sie entweder (wie die ältere Physik zu der Annahme von Kräften) zu der Annahme besonderer Vermögen (Vorstellungsvermögen, Gefühlsvermögen, Begehrungsvermögen, Einbildungskraft, Gedächtnis etc.) behufs Erklärung besonderer Erscheinungen ihre Zuflucht, oder sie leitet (wie die neuere Physik aus den elementaren Bestandteilen des Stoffes und deren Bewegungen) nicht nur auch die höchsten und verwickeltsten psychischen Gebilde (die Ichvorstellung, den sittlichen Charakter etc.) aus den elementaren Bestandteilen des Bewußtseinsinhalts (Empfindungen) und deren (durch Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung herbeigeführten) Verbindungen ab, sondern betrachtet selbst die verschiedenen Arten der psychischen Phänomene als Umbildungen einer einzigen (ursprünglichen) Art (Gefühle und Strebungen als bloße „Zustände der Vorstellungen“, Darwinismus in der P.). Je nachdem die psychischen Phänomene mit den physiologischen für identisch (wie in der P. des Materialismus) oder nicht identisch erklärt werden, nehmen auch die Naturgesetze, durch welche der Gang und Ablauf derselben geregelt wird, spezifisch physiologischen oder allgemeinern Charakter an. In letzterm Sinn spricht die Herbartsche Schule von einer „Statik“ und „Mechanik“ der psychischen Vorgänge und wendet die allgemeinen Formeln der Statik und Mechanik der in Wechselwirkung stehenden elementaren Bestandteile der Materie (Atome) außerhalb (in modifizierter Gestalt) auf die in Wechselwirkung befindlichen elementaren Bestandteile des Bewußtseinsinhalts (Empfindungen) innerhalb des Bewußtseins an (exakte oder mathematische P.). Wird dagegen von der Ansicht ausgegangen, daß die psychischen Phänomene überhaupt nicht, wie andre Vorgänge der natürlichen Welt, durch „Naturgesetze“ geregelt werden, sondern entweder völlig gesetzlos (willkürlich, transcendental frei) oder nach Normen einer „übernatürlichen“ (mystischen) Welt erfolgen, so nimmt die P. selbst „übernatürlichen“ (mystischen) Charakter an und geht in Spiritismus und Mystizismus über. Letztere Gestalt der P. umfaßt alle diejenigen (angeblichen) Thatsachen des Seelenlebens, welche (wie Kants transcendentale Willensfreiheit) das die erfahrungsmäßig gegebene Natur beherrschende Kausalgesetz gänzlich oder (wie die räumlich und zeitlich unvermittelten Einwirkungen der Geister- und Hellseher, Somnambulen etc.) teilweise aufheben und (seit Schubert) als „Nachtseite der Seele“ zusammengefaßt zu werden pflegen.

Anfänge der P. finden sich schon in der Philosophie des Altertums, insbesondere bei Platon, welcher die Seele aus einem vernünftigen und einem vernunftwidrigen „Teil“ zusammengesetzt dachte, zwischen welchen ein dritter vernunftloser, aber für Vernunft empfänglicher das „Band“ darstelle, und deren „Harmonie“ die Vollkommenheit des psychischen (wie die Harmonie zwischen den drei Ständen des Staats: Lehr-, Wehr- und Nährstand, die Vollkommenheit des politischen) Lebens ausmache. Aristoteles, bei welchem die Keime aller spätern P. zu finden sind, bezeichnete die Seele als „Entelechie des organischen Leibes“ und unterschied eine vegetative (der Ernährung und dem Wachstum vorstehende: Pflanzenseele), empfindende (sinnlich wahrnehmende und sinnlich begehrende: Tierseele) und erkennende (denkende und wollende) Seele: Geist. Seine Zurückführung der psychischen Vorgänge auf Arten und Vermögen ist von den Spätern fast unverändert beibehalten und nur von den einen (den Neuplatonikern) die P. als Lehre von der sinnlichen Seele von der Pneumatologie als Lehre vom Geist unterschieden, von den andern (den materialistischen Physikern) auch der Geist bloß als ein feinerer Körper angesehen worden. Beide letztere Anschauungen pflanzten sich durch das Mittelalter auf die neuere Zeit fort, wo die erstere bei Descartes, die letztere bei Hobbes wieder zum Vorschein kam. Leibniz, welcher die Seele als Monade, d. h. als spiritualistisches Atom, auffaßte, suchte alle Erscheinungen in derselben auf ein Vermögen, zu erkennen, und ein solches, zu begehren, zurückzuführen, während Locke den Versuch machte,

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13. Bibliographisches Institut, Leipzig 1889, Seite 444. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b13_s0444.jpg&oldid=- (Version vom 19.12.2021)