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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 11

der Universität Halle vereinigt. Stahl (1660–1734) fand den immateriellen Grund des Lebens in einer ursprünglich thätigen, bewegenden und vorstellenden Anima, die beim Akte der Zeugung allein das Thätige und Übergehende sei, sich ihren Körper baue und durch ihre Energie (Bewegung) Empfindung und Ernährung bewirke. Der Körper ist ihm das Leidende, ein unmittelbares Werkzeug der Seele und dadurch ein Organismus, der nur eine mechanische Anlage habe, und dessen Leben allein im Leben der Seele bestehe. Stahls Kollege Friedrich Hoffmann (1660–1742) suchte in der M. alles physisch und mechanisch zu erklären. Stahls unverstandene, aber bewunderte Größe und Hoffmanns eindringliche Klarheit würden zu alleinigem Ansehen gelangt sein, hätte nicht der Ruhm Boerhaaves (1668–1738) die Bewunderung der Zeitgenossen auf sich gelenkt. Boerhaave übte einen großen Einfluß durch sein Lehrtalent, seine beredte, lichtvolle Zusammenfassung großer Massen in übersichtlicher Darstellungsweise und durch seine hohe Begeisterung für die Wissenschaft. In der Mitte des 18. Jahrh. erwarb sich Albrecht v. Haller (1708–1777) um Anatomie, Physiologie, Botanik und Litteraturgeschichte außerordentliche Verdienste. Durch die von ihm aufgestellte Lehre von der Irritabilität gewann die Solidartheorie einen mächtigen Vorsprung. Diese Theorie, welche der humoralen und mechanischen gegenüber das Leben und dessen Erscheinungen vorzugsweise in den festen Teilen, namentlich im Muskel- und Nervensystem, begründet sieht, war von Glisson begründet worden, der zuerst eine allgemeine organisch bewegende Grundkraft, die Irritabilität, erkannte und dieselbe als die Quelle der Sympathien nicht allein den Fasern, sondern auch dem Blut, Parenchyma, Mark und selbst den Knochen zuschrieb. Haller faßte den Begriff der Irritabilität bestimmter und enger, indem er sie als die Grundkraft und Lebensthätigkeit der Muskeln bezeichnete. Von der Irritabilität schied Haller streng die Nervenkraft, und bald wurden allgemein Gehirn und Nerven als die alleinigen Inhaber und Beherrscher alles Lebens im Organismus angesehen, eine Ansicht, welche in ihrer höchsten Entwickelung und Einseitigkeit im System William Cullens (1710–90) hervortritt. Anatomie und Physiologie genossen in dieser Periode einer so ersprießlichen Pflege, daß fast keine andre Disziplin eine größere Anzahl berühmter Namen aufzuweisen hat. Was die praktische M. betrifft, so kam die alte Humoraltheorie besonders in dem Gastrizismus der Wiener Schule zum Vorschein. Diese Schule, durch den verdienstvollen van Swieten gestiftet, hatte in Anton de Haen ihren ersten berühmten Lehrer erhalten, erreichte ihren Höhepunkt aber in Maximilian Stoll aus Schwaben, der in genauer Verfolgung der epidemischen Konstitution den Sitz krankhafter Thätigkeit vorzugsweise im Unterleib erblickte, dessen entartete Säfte und Unreinigkeiten nur durch Brechmittel zu beseitigen seien. Fast gleichzeitig entstand Johann Kämpfs berühmte Lehre von den Infarkten, nach welcher durch Verdickung des trägen Bluts in den Unterleibsvenen, namentlich der Pfortader, wie durch Stockung des Serums in seinen Gefäßen und Drüsen ein Unrat zäher, kleisterartiger und polypöser Konkremente im Darmkanal entstehen sollte, gegen welche oft jahrelang mit auflösenden Visceralklystieren operiert ward. Auch die Physik äußerte um dieselbe Zeit ihren Einfluß auf die Heilkunde, und namentlich gaben die merkwürdigen Erscheinungen der Elektrizität der Wissenschaft eine mächtige Anregung, welche durch die Entdeckungen Galvanis und Voltas noch mehr gesteigert ward. Es entstand die Lehre von der Identität des galvanischen und organischen Lebensprozesses, der in der abstraktesten Auffassung als ein beständiger Wechsel von Polarität und Indifferenz erschien, welche Ansicht später bei vielen Physiologen, namentlich bei Prochaska und in der naturphilosophischen Schule, großen Anklang fand.

Eine neue Epoche ward in der Heilkunde durch John Brown (1735–88) heraufgeführt; ihm waren alle Lebenserscheinungen nur das Produkt der Außendinge oder Reize, deren Wirkung in der Erregung bestehe, wodurch allein das erzwungene Leben sich vom Tod unterscheide. Seine Therapie kannte nur Krankheiten der Sthenie und Asthenie, ermittelte den Grad derselben und bestimmte hiernach das Maß der Reize, durch welches die Erregung vermindert oder vermehrt werden sollte. Der enthusiastische Beifall, den Browns Lehre vorzüglich in Deutschland gewann, mag sich zum Teil aus der blendenden Konsequenz, Einfachheit, Leichtigkeit und praktischen Brauchbarkeit jenes Systems erklären; zum Teil aber entsprang er auch aus dem Mangel an allgemeiner, besonders naturwissenschaftlicher, Bildung unter den Ärzten, aus der Einseitigkeit der vorherrschenden, zu Abstraktionen geneigten Verstandesbildung und flachen Aufklärungssucht. In dieser für die Heilkunde so unerfreulichen Zeit machen einige Männer, die treu an der Natur und dem Geist festhielten, eine rühmliche Ausnahme. Der erste ist Johann Peter Frank (1745–1821), dessen „Epitome de curandis hominum morbis“ der Heilkunde zu allen Zeiten einen sichern Haltpunkt darbieten wird. Johann Christian Reil (1758–1813) bewies sich durch sein gefeiertes Werk „Über die Erkenntnis und Kur der Fieber“ sowie durch seine trefflichen Untersuchungen über den Bau des Gehirns als denkender Beobachter, der trotz seines reichen und bewegenden Geistes den Brownianismus teilnahmlos an sich vorübergehen ließ. Christian Wilhelm Hufeland, Professor in Jena und Berlin (1762–1836), trat der Lehre Browns und ihren fanatischen Jüngern mit dem Schilde der Wahrheit entgegen und bestand den Kampf jahrelang, mit unermüdlicher Geduld zur Vermittelung der Extreme stets die Hand bietend.

Schon hatte das Studium der Naturwissenschaften außerordentliche Fortschritte gemacht, als Schellings Naturphilosophie auftrat und von der Heilkunde mit Jubel begrüßt wurde. Der wahre Kern derselben ist die Auffassung der Natur als eines absoluten, durch sich selbst thätigen oder organischen Ganzen, welches durch Entzweiung der Identität oder Hervortreten der Gegensätze (Differenz oder Indifferenz) sein Sein in der ewigen Erzeugung der Dinge, doch mit verschiedenem Übergewicht des Idealen und Realen, offenbart. Diesen großen Gedanken sich aneignend, entstand die Lehre, daß den drei Dimensionen der Materien drei Grundkräfte der Natur, Magnetismus, Elektrizität und chemischer Prozeß, entsprechen, welche im menschlichen Organismus in qualitativer Bestimmtheit als Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion sich darstellen, und auf deren normaler Synthesis die Gesundheit beruhe. Hierbei wurden Sensibilität und Irritabilität (organische Rezeptivität und Spontaneität) als die Faktoren der Erregung und die Reproduktion, Plastik oder Metamorphose als die objektive Seite des Organismus, beide aber in stetiger Durchdringung aufgefaßt und die Krankheit als einseitiges Hervortreten einer dieser Dimensionen, namentlich der beiden ersten, anerkannt. Trotz aller Mißgriffe, welche sich berufene und unberufene Jünger

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 11. Bibliographisches Institut, Leipzig 1888, Seite 404. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b11_s0404.jpg&oldid=- (Version vom 4.3.2022)