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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 10

Gelehrtenlexikon, der zugleich eine scharfe Kritik des Werkes war und für Lessings ausgebreitete Belesenheit und kritischen Scharfsinn rühmlich Zeugnis abgelegt haben würde, hätte er es nicht vorgezogen, den schon begonnenen Druck dieser Arbeit wieder einzustellen. Vollendet wurden dagegen eine Reihe von Aufsätzen, die L. „Rettungen“ überschrieb, „Beiträge zur Reformationsgeschichte“ (über Hieronymus Cardanus, Cochläus, Simon Lemnius u. a.), in denen sich Lessings scharfe, allem Autoritätsglauben abgeneigte Kritik mit seinem warmen Gerechtigkeitsgefühl zu einer Meisterleistung verband. Noch vor Ablauf des Jahrs 1752 kehrte L., nachdem er zum Magister promoviert worden, nach Berlin zurück und widmete sich nach wie vor der freien litterarischen Thätigkeit, welche in Wahrheit erst durch ihn zu Ehre und Ansehen gelangte. Er schrieb wiederum Kritiken für die „Vossische Zeitung“, begründete eine neue „Theatralische Bibliothek“ (Berl. 1754–58), schrieb mit Moses Mendelssohn die Schrift „Pope ein Metaphysiker!“ (Danzig 1755), gab die Schriften seines Freundes Mylius heraus, welcher früh auf einer wissenschaftlichen Reise in London gestorben war, und lebte daneben in einem kleinen Kreis befreundeter, geistig strebsamer und angeregter Männer, unter denen sich Sulzer, Ramler, Fr. Nicolai und Moses Mendelssohn befanden. Sein ausgebreitetes Wissen, sein genialer Einblick in den Kern aller poetischen und litterarischen Aufgaben und sein unerschrockener Freimut begannen gefürchtet zu werden, seitdem er, frech herausgefordert, mit seinem „Vademecum für Herrn Samuel Gotthold Lange, Pastor in Laublingen“ (Berl. 1754) an dem seichten und flüchtigen Horaz-Übersetzer und in ihm an der ganzen behaglichen und platten Mittelmäßigkeit in der damaligen schönen Litteratur ein Exempel statuiert hatte. Während dieses zweiten Aufenthalts in Berlin wandte sich L. mit Vorliebe dem Studium der englischen Litteratur, namentlich der bürgerlichen Dichtung der Lillo, Richardson u. a., zu, sprach es aus, daß ebendiese Dichtung dem deutschen Geist unendlich verwandter sei als die französische, und stellte offenbar die Romane und Dramen der Engländer als mustergültig hin, weil er jenen unmittelbaren Lebensgehalt in ihnen wahrnahm, welcher der deutschen Poesie noch fehlte, und dessen sie bedurfte. Das erste größere dramatische Werk Lessings: „Miß Sara Sampson“ (Berl. 1755), lehnte sich daher an die Situationen und Lebensverhältnisse der englischen Familienromane und bürgerlichen Trauerspiele derart an, daß Lessings Zeitgenossen „Sara Sampson“ schlechthin ein englisches Trauerspiel nannten; zugleich aber erwies es in der Handlungsführung und Charakteristik eine Freiheit und Meisterschaft, die in der steifen, leb- und hilflosen, ängstlich nach Regeln arbeitenden deutschen Litteratur seither unerhört war. Eben weil er fühlen mußte, daß er mit dieser poetischen Leistung auf einen Höhepunkt gelangt sei, wünschte L. sich der seitherigen Art seiner Existenz, wo der Tag für den Tag zu sorgen hatte und er neben eignen Arbeiten Übersetzungen liefern mußte (er übertrug einige Bände von Rollins „Geschichte“ aus dem Französischen, Huartes „Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften“ aus dem Spanischen etc.), zu entziehen.

Er vertauschte im Oktober 1755 Berlin wieder mit Leipzig, wohin ihn die Kochsche Schauspielertruppe gezogen zu haben scheint, und konnte bald darauf seinen Berliner Freunden von einer Aussicht melden, über die er große Genugthuung empfand: er sollte als Reisebegleiter eines jungen Leipziger Patriziers, Winkler, Ostern 1756 eine auf drei Jahre berechnete Bildungsreise nach den Niederlanden, England, Frankreich, Italien antreten. Er schreibt darüber: „Ich werde nicht als Hofmeister unter der Last eines mir auf die Seele gebundenen Knaben, nicht nach den Vorschriften einer eigensinnigen Familie, sondern als der bloße Gesellschafter eines Menschen reisen, welchem es weder an Vermögen noch an Willen fehlt, mir die Reise so nützlich und angenehm zu machen, als ich sie mir nur selbst werde machen wollen“. Er bereitete sich ernsthaft auf die Reise vor, welche in der That 10. Mai angetreten wurde und L. durch das nördliche Deutschland nach den Niederlanden führte, wo von Amsterdam aus die vorzüglichsten Städte besucht wurden. Der Ausbruch des Siebenjährigen Kriegs aber und die Besetzung Leipzigs durch preußische Truppen trieben Winkler nach Leipzig zurück, wohin ihm L. notgedrungen folgen mußte. Da es hier rasch zu einem Zerwürfnis zwischen L. und seinem seitherigen Genossen kam, das in einen erst nach Jahren (1764) zu Lessings gunsten erledigten Prozeß auslief, so sah sich der Schriftsteller, welcher auf drei Jahre der Sammlung und Muße gehofft hatte, wieder auf seine Feder angewiesen und mußte mehr als je zuvor zu Übersetzungen, Korrekturen und andern Notbehelfen greifen. Zunächst hielt ihn der Verkehr mit dem preußischen Major Ew. v. Kleist (dem Dichter) in Leipzig zurück; als aber dieser im Mai 1758 zur preußischen Feldarmee ging, zog es auch L. wieder nach Berlin. Mit den dortigen Freunden Nicolai und Mendelssohn hatte L. eifrig (vorwiegend über die Theorie des Trauerspiels) korrespondiert, und auf alle Fälle fand er in Berlin mehr Beziehungen, als er zur Zeit in Leipzig besaß. Von 1758 bis 1760 lebte L. in der preußischen Hauptstadt unter den Eindrücken der Thaten und Wechselfälle des Siebenjährigen Kriegs. Mit seinen Freunden vereinigte er sich zur Herausgabe eines neuen kritischen Organs für Besprechung der Litteratur: der „Briefe die neueste Litteratur betreffend“ (Berl. 1759 ff.), für die er jene Beiträge schrieb, durch welche die Zeitschrift beinahe allein ihre bleibende Bedeutung erlangte. Er veröffentlichte nebenbei drei Bücher seiner „Fabeln“ nebst Abhandlungen (Berl. 1759) und das kleine patriotisch-kräftige, in einer knappen, scharfen Prosa abgefaßte Trauerspiel „Philotas“ (das. 1759), schrieb sein erst später erschienenes „Leben des Sophokles“, gab „Logaus Sinngedichte“ (Leipz. 1759) heraus und übertrug „Das Theater des Herrn Diderot“ (Berl. 1760, 2 Bde.), die verwandten Bestrebungen des französischen Kritikers und Dichters richtig würdigend. Die Unsicherheit seiner Lage, der erneut wiederkehrende Wunsch, sich größern Arbeiten in aller Muße und ohne Rücksicht auf ihre frühere oder spätere Vollendung widmen zu können, veranlaßten L., eine Stellung als Sekretär des Generals Tauenzien, des Gouverneurs von Schlesien, anzunehmen und im Herbst 1760 nach Breslau zu gehen. Wenn auch die Freunde gewaltig den Kopf schüttelten, daß sich L. in eine Flut von ganz unlitterarischen, militärischen und bürgerlichen Geschäften hineingestürzt habe, und er selbst in einigen Briefen über die Last ermüdender, unbedeutender Beschäftigungen, erlogener Vergnügen und Zerstreuungen klagte, so ward ihm doch der mehrjährige Aufenthalt in Breslau fruchtreich: er konnte sich eine Zeitlang seinen Lieblingsneigungen überlassen, lebendiger Wirklichkeit, die ihn umgab, die poetische Seite abgewinnen und fand Gelegenheit, nicht nur seine Familie reichlich zu unterstützen (was er übrigens auch in seinen dürftigsten Lagen über seine Kräfte hinaus

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 10. Bibliographisches Institut, Leipzig 1888, Seite 721. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b10_s0721.jpg&oldid=- (Version vom 18.4.2023)