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CLXXXXIV. Die Ruine Sayn.




Zwei Meilen unterhalb Koblenz, am rechten Rheinufer, liegt das freundliche Neuwied, Hauptort eines Fürstenthums gleichen Namens, das unter preußischer Hoheit steht. Die Stadt hat gegen 6000 Einwohner. Gegründet wurde sie an der Stelle des Dorfes Langendorf, vor nicht ganz 200 Jahren, vom Grafen Wilhelm von Neuwied, einem der edelsten Männer seiner Zeit. Als die damaligen, in verschiedenen Ländern argen Religionsverfolgungen ganze Schaaren gewerbfleißiger Menschen aus ihrer Heimath vertrieb, bot er den Verfolgten sein Land als Asyl an. Ein verdienter Erfolg krönte sein christliches, menschenfreundliches Werk. Tausende kamen aus nah und fern, bauten Neuwied, und dieß blühete empor durch Gewerbfleiß und Handel auf eine in Deutschland bisher beispiellose Art. Noch dauert der Stadt Gedeihen ungeschmälert fort und der Geist ihres Gründers ist das Erbe seiner Nachfolger. Es leben Katholiken, Lutheraner, Quäcker, Herrnhuter, Mennoniten, Juden, kurz 21 Religionsparteien zusammen, und das so oft in Haß Geschiedene vereinigt hier die schönste Eintracht. Humanität ist der oberste Grundsatz des fürstlichen Hauses und sie übt auf die Einwohner den gesegnetsten Einfluß.

Eine Stunde von Neuwied öffnet sich das Saynthal nach dem Rheine hin; ein Thal voll malerischer Parthieen. Eine der schönsten machen die stattlichen Ruinen des alten Schlosses Sayn aus, der Stammburg des gefürsteten, reichbegüterten und in der Geschichte merkwürdigen Grafengeschlechts. Thürme und gewaltige Mauerreste stehen noch, und ihre Mauerfestigkeit ist so groß, daß, obschon sie seit 4 Jahrhunderten zerstört und ausgebrannt ist, Zeit und Wetter seitdem doch wenig an ihr verändert haben. Ihr Ursprung geht in das 11te Jahrhundert zurück. Schon im 13ten Jahrhundert glänzten ihre tapfern Burgmannen, als Grafen, bei Ritterspielen und in Fehden; ein Graf Sayn zog mit Kaiser Friedrich, dem Rothbart, in’s heilige Land, und zeichnete sich durch Heldenthaten aus. Noch blüht ein Zweig dieses alten Geschlechts in der Linie Sayn-Wittgenstein.



Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/40&oldid=- (Version vom 10.10.2024)