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Bedeutung, als die der Völkerwanderung, welche ihr vorausgeht. Die Völkerwanderung hatte Zerstörung der römischen Welt zur Aufgabe, als deren ungeheures, in sich zerfallenes Wesen ihrer Auflösung durch eine innere Fäulniß entgegen ging, welche die Menschheit zu verpesten und zu verderben drohete. Der Allmächtige schüttelte die Bergfesten und Wälder unbekannter Länder, und die Völker der Barbaren stürmten heraus, den Todeskampf der Sieger und Quäler der Erde zu beschleunigen und einem Zustande ein Ende zu machen, welcher sich überlebt hatte. Die Völkerwanderung war gleichsam für die alte Welt der Mörder und der Todtengräber zugleich. Durch sie ist Alles, was jene Großes, Herrliches, Verwerfliches und Beengendes hervorgebracht, im Leben untergegangen und nur im Buchstaben feierte es später eine Auferstehung. Die Völkerwanderung steckte die Marke, welche den Anfang eines neuen Lebensalters der Menschheit bezeichnet. Wenn nicht Alles trügt, dann hat mit der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts der dritte Abschnitt der Weltgeschichte begonnen, der keine Wanderung, sondern eine Verwandelung der Nationen zu berichten haben wird. –

Die ewigen Namen: Columbus, Guttenberg, und Huß-Luther, füllen die erste Zeile dieses neuen, welthistorischen Abschnitts. Die Entdeckung Amerikas war für die Fortbildung der Menschheit unentbehrlicher noch, als die Erfindung der Buchdruckerkunst und die Reformation. Die alte Welt bedurfte eine junge Schwester, die Familie der Menschheit bedurfte einer neuen Wohnung. Spanien fand sie. Leider Spanien! denn Spanien gebrauchte sie wie ein Spieler einen mit geringem Einsatz gemachten hohen Gewinn. Spanien hat es verstanden, seinen Fund zu vergeuden und zu verwüsten, nicht ihn zu nützen, oder zu erhalten.

Wer die Ruhe der Leichen liebt, der wird auch den Despotismus bewundern; denn jene gibt diese am sichersten. Eine solche Todtenackerruhe brachte Spanien über die größere Hälfte Amerikas. Rächen sich die Sünden der Väter an ihren Kindern, wahrlich, dann muß Spanien noch lange eine Hölle für seine unglücklichen Bewohner seyn.

Aber während der Süden der neuen Welt verfinsterte und verblutete unter den Klauen seiner von unersättlicher Habsucht gespornten Quäler, streute ein anderes Volk in der nördlichen Hälfte des Erdtheils die Saat aus, aus welcher Freiheit des Glaubens und der Meinung als Frucht gereift ist. Die inneren Unruhen, welche das Mutterland zerrütteten, die politischen und religiösen Streitigkeiten, welche, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die Britten in feindliche Parteien spalteten, die sich wechselsweise bekämpften, verfolgten und unterdrückten, bestimmten Tausende und aber Tausende ihre Heimath zu verlassen und – Nordamerika! ward das Losungswort Aller, welchen das Herz für Freiheit schlug, in denen der Sinn für die höheren Güter des Lebens lebendig war. Diese begeisterten Menschen bildeten den Kern, aus welchem der herrliche Baum erwachsen ist, in dessen Schatten jetzt so viele Völker verschiedener Welttheile ruhen.

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/34&oldid=- (Version vom 10.10.2024)