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CLXXXXIII. Quebeck am Lorenzstrom in Canada.




Durch den Menschen geht die Zeit, ohne ihn würde sie still stehen. Die Zeit aber ist auf der Flucht. Glaube Keiner, erst seit gestern. Seit viertehalb Jahrhunderten sind ungeheure und große Dinge in so schnellem Wechsel geschehen, daß die Zeitgenossen gafften und da standen und nicht begreifen konnten. Die heutige Lieblingsphrase: wer die letzten zwanzig Jahre gelebt hat, hat für Jahrhunderte gelebt, war schon im Munde unserer Urgroßältern. Thörichter Wahn! als wäre das Spiel dieser zwanzig Jahre bedeutungsvoller, wie das der vorhergegangenen; als seyen die geschehenen Dinge dieser beiden Dezennien so ungeheuer und so groß, wie keine der ältern. Wohl, wenn ich zwanzig oder dreißig Jahre zurückdenke, ist mir’s, als wäre ich in einem wundervollen Traume, als wären die beiden Endpunkte des durchlaufenen Raumes himmelweit auseinander; der Raum selbst aber eine trümmervolle Wüste, belebt mit Phantomen, mit Wesen des Nichts. Wie Vieles von dem, was ich als groß, wichtig, zeitbildend, Weltgeschicke lenkend angesehen, Menschen und Dinge und Begebenheiten, ist wie Seifenblasen zerronnen. Wie viele Götzen, welche jene Zeit auf ihren Thron gesetzt, sehe ich herabgestürzt, wie viele vergötterte Führer sehe ich vergessen, geglaubte Lichter für alle Zeiten erloschen! Und doch verhüten so viele Täuschungen nicht, sich täglich neuen hinzugeben. Bei der klaren, sich mit jedem Rückblick aufdrängenden Ueberzeugung, daß alles Jüngste, Herrlichste, Schönste schnell altert, alles Großgeglaubte schnell zusammenschrumpft, oder vergeht, und keine Spur hinter sich läßt, wie das Schiff im Meere, oder der Flügel in der Luft, wird der eitle Mensch doch fortfahren, die Gegenwart durch eine Vergrößerungsbrille zu betrachten, das Zeitwölkchen, das über ihm schwebt, für den Himmel der Ewigkeit anzusehen, oder die Welle, die ihn trägt, für den unermeßlichen Ozean. –

Wenn sich Myriaden Wellen vereinigen, werden sie zum Weltmeer, und das Größte wird aus der Vielheit des Kleinen gebildet. Darum sollen wir, so lächerlich auch die Ueberschätzung der Gegenwart seyn mag, doch eingedenk seyn, daß das Sandkörnchen aus der Urne Kronions, was wir unsere Zeit zu nennen pflegen, ein Atom des Weltalters ist, in welchem sich die geistige und sittliche Revolution der Menschen in Neigungen und Streben entwickelt, und daß auch wir im Weltalter der Umwandlung leben, welches, mit Huß, Guttenberg und Columbus begonnen, in einer noch nicht zu berechnenden Zukunft endigen wird. Diese Aera hat eine weit höhere

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/33&oldid=- (Version vom 10.10.2024)